Die chronometrische Sprachfunktion 101 Die oben genannte Informantin lieferte mir noch einen Text für längere Zeitmessun-gen, den sie Deus illa nannte. Obwohl die Sprecherin sonst einen mittelitalienischen Dialekt spricht, spricht sie diesen Text in einem stark regional geprägten Standard-italienisch (Abweichungen vom Standard: surgirà, friguriam, avanti statt davanti). Es ist nicht schwer zu erkennen, um welchen Text es sich eigentlich handelt. Ich tran-skribiere hier einen Ausschnitt aus der Aufnahme, kursiv sind die Wörter geschrie-ben, die einen direkten Bezug zum Originaltext haben:Surgirà la creatura dall’antica sepultura friguriam al tribunale dov’è scritto il ben il male avanti al duce diffidente ›die Kreatur (dialektal, regional: das Kind) wird auferstehen vom alten Grab, wir wer-den vor dem Gericht erscheinen, wo das Gute und das Böse geschrieben steht, vor dem misstrauischen Führer.‹Der Text beruht auf dem » Dies irae « , wovon ich im Folgenden den entsprechenden Ausschnitt (das bekannte » Tuba mirum « ) wiedergebe. Die lateinischen Wörter, die in der Version meiner Informantin wieder aufgenommen wurden, sind kursiv ge-setzt:Tuba mirum spargens sonum Per sepulcra regionum Coget omnes ante thronum.Mors stupebit et natura Cum resurget creatura Judicanti responsura.Liber scriptus proferetur In quo totum continetur Offensichtlich ist der ursprünglich lateinische Text halb verstanden nach und nach regional italianisiert worden (erstaunlicherweise nicht im lokalen Dialekt) und kann in dieser Form zur Zeitmessung verwendet werden. 1.3 Sprachliche Chronometrie und Optimalitätstheorie Die zur Zeitmessung verwendeten Texte zeigen eine Reihe von Besonderheiten, die sich im Rahmen der Optimalitätstheorie 7 gut erklären lassen. Die Optimalitätstheo-rie ist eine Weiterentwicklung der generativen Phonologie (beschränkt sich aber in-zwischen nicht auf phonologische Probleme); ähnlich wie in der Natürlichen Pho-nologie wird die tatsächlich verwendete Form als ein Kompromiss zwischen der zu-7 René Kager: Optimality Theory. Cambridge 1999.