102 Martin Haase grundeliegenden Form und einer möglichst einfach artikulierbaren Variante angese-hen. Dabei erfolgt die Evaluation der verschiedenen aus der zugrundeliegenden Form ableitbaren Varianten auf der Grundlage so genannter Beschränkungen: einer-seits gibt es Markiertheitsbeschränkungen, die die Komplexität der Form einschrän-ken, andererseits gibt es Treuebeschränkungen, die eine Abweichung von der zu-grundeliegenden Form beschränken.Wichtige Markiertheitsbeschränkungen sind (das Sternchen steht für zu vermei-denden Elemente):– geschlossene Silben sind zu vermeiden: CV *C –komplexe Konsonantengruppen sind zu vermeiden: *CC –aufeinanderfolgende Konsonanten bzw. Vokale in benachbarten Silben sollen ähnlich sein: HARMONIE Solche Markiertheitsbeschränkungen gelten in allen Sprachen, allerdings mit unter-schiedlicher Gewichtung. So ist es im Deutschen durchaus üblich, geschlossene Sil-ben auch am Wortende zu haben. Das Französische vermeidet sie und im Italieni-schen sind sie für manche Sprecher gar nicht möglich. Ähnlich sieht es mit komple-xen Konsonantengruppen aus. Konsonantische Assimilation spielt in der einen oder anderen Sprache eine stärkere oder schwächere Rolle, manche Sprachen verfügen über Vokalharmonie (z. B. Türkisch), andere zeigen eine teilweise Vokalharmonie (mittel-süditalienische Dialekte) und andere kennen nur vereinzelte Umlautphäno-mene, die morphologisiert wurden (Deutsch). Die schärfste Treuebeschränkung ist natürlich die Identität von Input (zugrunde-liegender Form) und Output (tatsächlich verwendeter Form). Diese scharfe Treuebe-schränkung spielt aber in den meisten Sprachen eher eine untergeordnete Rolle. Teilbeschränkungen sind oft höher bewertet: die Oberflächenform soll keine zusätz-lichen Merkmale enthalten, die nicht schon in der zugrundeliegenden Form vorhan-den sind, oder die Oberflächenform soll keine Merkmale der zugrundeliegenden Form verlieren. In Sprachen, die wie das Deutsche eine Auslautverhärtung kennen, ist der Verlust des Merkmals Stimmhaftigkeit kein Problem, weshalb die zuletzt ge-nannte Beschränkung hier einen sehr niedrigen Wert hat – im Gegensatz zum Assi-milationsprinzip des stimmlosen Auslauts (HARMONIE). Im Englischen ist es gera-de andersherum. Während die Markiertheitsbeschränkungen für die leichte Artikulierbarkeit ei-ner Form sorgen, erhalten die Treuebeschränkungen die Verständlichkeit einer Form (mit Bezug auf die zugrundeliegende Form). Es leuchtet ein, dass im Fall der chronometrischen Sprachfunktion Treuebe-schränkungen eine nachrangige Rolle spielen, denn es geht hier nicht um Kommu-nikation, sondern nur um Zeitmessung. Um die Zeitmessung zu gewährleisten, ist es wichtig, dass die verwendeten Texte sich immer leicht und schnell artikulieren lassen, denn eine komplexe phonetische Struktur würde womöglich zu Verzögerun-