Kanonik versus Rhetorik: Vom Geiste der Kirchenmusik Hugo Distlers Stefan Hanheide Hugo Distler gehörte in den dreißiger Jahren zu den großen neuen Hoffnungen der Evangelischen Kirchenmusik. Nach seinem Amtsantritt als Organist an St. Jakobi in Lübeck am 1. Januar 1931 und der baldigen Übernahme des Kantorenamtes schuf er in schneller Folge eine Reihe kirchenmusikalischer Werke. Bis 1935 entstanden u. a. » Eine deutsche Choralmesse « op. 3, » Eine kleine Adventsmusik « op. 4, » Der Jahr-kreis « op. 5, die » Choralpassion « op. 7, zwei Orgelpartiten op. 8, die » Weihnachts-geschichte « op. 10, die » Geistliche Chormusik « op. 12 und die » Liturgischen Sätze über altevangelische Kyrie- und Gloriaweisen « op. 13. In fünf programmatischen Aufsätzen zwischen 1932 und 1935 hat Distler Aspek-te seines Selbstverständnisses als Komponist zum Ausdruck gebracht.1 Vier der Tex-te erschienen regional in den » Lübeckischen Blättern « , der letzte und gewichtigste überregional im Dezemberheft 1935 der » Zeitschrift für Musik « unter dem Titel » Vom Geiste der neuen Evangelischen Kirchenmusik « . Darin beschreibt er » mehrere Erscheinungsformen der neuen evangelischen Kirchenmusik im Schaffen der letzten Jahre « 2 und arbeitet mit dem Begriff » kanonisch « . Darunter versteht er zum einen » eine ausschließlich kultischen Zwecken dienende, ›kanonische‹ Musik « ,3 also eine Funktionsbeschreibung, und er schränkt diese Funktion sogar auf die Bearbeitung des Ordinariums ein und spricht von » Singmessen « . Als zeitgenössische Komponis-ten, die solche Singmessen geschrieben haben, nennt er Kurt Thomas, Heinrich Spit-ta, Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und sich selbst, gemeint ist seine » Deutsche Choralmesse « op. 3, uraufgeführt am 4.10.1931, erschienen 1932.4 Zum anderen dient der Begriff ›kanonisch‹ aber zur Beschreibung des musikalischen Charakters: Es handele sich um eine » hierarchisch-strenge, an altniederländische Musik gemah-1 Die Aufsätze tragen folgende Titel:Das Wiedererwachen des 16. und 17. Jahrhunderts in der Musikpflege unserer Zeit (Lübeckische Blätter, Jan./Feb. 1932); Von der Mission der deutschen evangelischen Kirchenmusik und Lübecks Verpflichtung als Kirchenmusikstadt im besonderen (Lübeckische Blätter, Juni 1933); Offene Sing-stunden unter Bruno Grusnick (Lübeckische Blätter, Febr. 1934); Von Stellung und Aufgabe der jun-gen Musik in Deutschland (Lübeckische Blätter, Juni 1934); Vom Geiste der neuen Evangelischen Kir -chenmusik (Zeitschrift für Musik, Dez. 1935).2 Hugo Distler: Vom Geiste der neuen Evangelischen Kirchenmusik, in: Zeitschrift für Musik 102 (1935), S. 1325–1329, hier S. 1326.3 Distler: Vom Geiste, S. 1328 (s. Anm. 2).4 Winfried Lüdemann: Hugo Distler. Eine musikalische Biographie, Augsburg 2002, S. 438.