106 Stefan Hanheide nende Bearbeitungspraxis des Ordinariums, daß die Musik Züge einer geradezu ka-nonischen Strenge und zugleich asketischen Starre gewinnt « . Und schließlich weist der Begriff auf die Form hin, indem Distler beispielhaft Ernst Pepping und nament -lich dessen kanonische Choräle nennt.5 Distler räumt ein, dass die Persönlichkeit des Komponisten in dieser » kanoni-schen « Musik, womit er Charakter und Form gleichermaßen zu meinen scheint, zu-rücktrete, dass in der Kritik von einer Verleugnung der Persönlichkeit gesprochen werde. Aber diese Seite dürfe nicht als die einzige wesenhafte der zeitgenössischen Kirchenmusik bezeichnet werden. Nach längeren Ausführungen über das Wesens-element des Gemeinschaftserlebens für die neue Kirchenmusik, in denen Distler To-poi der Jugendmusikbewegung heranzieht, die die kirchenmusikalische Erneue-rungsbewegung stark geprägt hat,6 stellt er eine andere Seite der jungen deutschen Kirchenmusik heraus. Sie sei mit Lobpreis und Anbetung gekennzeichnet und er-kenne in der verherrlichenden Deutung des Gotteswortes ihr innerstes Wesen. Und er fährt fort: Da gewinnt das Wort eine neue und höhere Leibhaftigkeit, da wird der Wortge-stalt und -bändigung mit einer Besessenheit nachgegangen, dass es wieder et -was zurückgewinnt von der Bildhaftigkeit, dem Gleichnishaften mittelalterlicher Tafelmalerei. […] Es ist für mich selber immer wieder von neuem ein Erlebnis, feststellen zu können, wie gerade aus dem Geist der neuen Chormusik ein ganz neuer persönlicher Stil sich zu gestalten beginnt, der einerseits nichts gemein hat mit jener geradezu geschwätzigen, aufdringlichen Selbstgefälligkeit, die die Musik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts oft kenn-zeichnet, auf der anderen Seite jedoch eben ungemein differenziert und inner-lich erregt ist. […] Ein Zug extatischer Entrücktheit geht in der Tat durch alle Hochzeiten deutscher Musikkultur. […] Die Außenwelt, die ganze Welt außer mir, nicht die äußere Welt ist es, die in mir ruht, und, besitze ich die Kraft der Beschwörung, in mir zu einem magischen Bild ersteht. Das ist das Wesen die-ser neuen Mystik, die um so insichgekehrter erscheint, je weltumfassender sie ist.7 Die folgenden Ausführungen wollen Distlers Verhältnis zum Kanon an ausgewähl-ten Werken klären, daraus ein Prinzip seines Komponierens entwickeln, dieses an einem zentralen Wesensmerkmal seines Schaffens nachweisen, einen Bezug zu sei-nen gerade zitierten verbalen Ausführungen zur Kirchenmusik herstellen und schließlich auf kulturgeschichtliche Wurzeln verweisen. Als Beispiel für die erste Erscheinungsform der neuen Kirchenmusik, bei der die Persönlichkeit des Komponisten zurücktrete, nennt Distler die kanonischen Choräle von Ernst Pepping. Dabei handelt es sich um Peppings » Choralbuch. 30 kanonische 5 Distler: Vom Geiste, S. 1326 (s. Anm. 2).6 Vgl. Franz Ganslandt: Jugendmusikbewegung und kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung, München 1997. 7 Distler: Vom Geiste, S. 1328f. (s. Anm. 2), Kursive im Original gesperrt.