112 Stefan Hanheide Notenbeispiel 3: Hugo Distler: » Kleine Choralbearbeitungen « op. 8,3, Kassel und Basel 1938, Nr. 5 Vorspiel » Mit Freuden zart « [1936]1932 äußerte, zur Singbewegung.18 Aber auch auf der Suche nach einer kanonisch strengen, also realen Imitationsweise wird man im » Jahrkreis « nicht fündig. Bei den vielen Imitationen findet man kaum eine einzige streng durchgeführte, reale. Das zeigt sich schon in der ersten Motette der Sammlung » O Heiland reiß die Himmel auf « .19 Kanonische Strenge würde bedeuten, dass eine rhythmisch-melodische Ver-sion des Chorals in allen Stimmen – in den ersten beiden Choralzeilen – durchgehal-ten wird. Das lässt sich aber nicht feststellen; schon im dritten Takt zeigen sich Va-rianten in Rhythmen und Intervallen. Immer wird das vorgegebene Modell rhyth-misch oder melodisch variiert oder mit den typisch Distlerschen Melismen angerei-chert. De facto handelt es sich um permanente Abweichungen von kanonischer Strenge, um die ständige Veränderung eines strukturbildenden Kerns. Ähnliche Verfahrensweisen des Verzichts auf strenge Kanonik 20 zugunsten der ständigen Veränderung der Choralzeilensubstanz ließen sich auch in anderen Chor-satzsammlungen Distlers nachweisen, z. B. in der – unvollendeten – » Geistlichen Chormusik « op. 12. Und auch in der Orgelmusik zeigt sich dieser Verzicht auf kanonische Strenge, z. B. an der kleinen Choralbearbeitung » Mit Freuden zart « aus op. 8,3. 18 Brief vom 16.7.1932 an Breitkopf und Härtel, zit. nach Ursula Herrmann: Hugo Distler, Berlin 1972, S. 60.19 Ebenso auch Nr. 12, 15, 16, 17, 21, 28, 32, 33, 45, 48.20 Zum Kanon bei Distler vgl. Ursula von Rauchhaupt: Die vokale Kirchenmusik von Hugo Distler, Gü-tersloh 1963, S. 138–145. Sie spricht von kanonischen Bildungen im » Jahrkreis « in verschiedenen Sät-zen. Von strenger Kanonik kann hier allerdings nicht die Rede sein, allein in Nr. 17 wird die erste Cho-ralzeile in den Außenstimmen und die letzte Choralzeile in den Oberstimmen dem Kriterium gerecht.