118 Stefan Hanheide Schlussviertel c'. Das Motiv lässt sich teilen in einen ersten Motivteil, bestehend aus der Viertel-Quarte, und den nachfolgenden Achteln mit Viertel-Schlusston als zwei-tem Motivteil. Im Notenbeispiel aus der Motette op. 12,6 wird vor dem ersten Erscheinen des Motivs der erste Motivteil vorausgenommen, beginnend mit einer halben Note. Nach dem ersten Auftreten des Motivs wird dessen zweiter Teil identisch wieder-holt, wobei die Taktart – entsprechend den zwei fehlenden Vierteln – von 3/2 in Allabreve wechselt. Im anschließend wieder notierten 3/2-Takt wird das gesamte Motiv eine kleine Terz höher sequenziert (Achsenton es''). Der erste Motivteil, die Viertel-Quarte, wird gesondert wiederholt, dann in die große Oberterz sequenziert (d''–g''), dreimal wiederholt, schließlich wieder herunter (b'–es'') und herauf se-quenziert (d''–g''). Der zweite Motivteil folgt mit Achsenton es'' und anschließend c''. Der Schluss der Passage arbeitet um den Achsenton d''. Der zweite Motivteil be-ginnt metrisch verschoben nun volltaktig und wird durch die Verlängerung der dritten Note von einer Achtel in eine punktierte Viertel wieder in die alte metrische Gestalt zurückgeführt. Das neue Gebilde – punktierte Viertel und drei Achtel – wird wiederholt, und die Passage klingt auf den dreimal wiederholten Rufen » wohlauf « auf der Obersekunde e'' aus. Gegenüber dem Beginn der Passage steht hier – als Rahmung – die umgekehrte Reihenfolge Halbe–Viertel, wobei das Wort abwech-selnd volltaktig und auftaktig erklingt. Begriffe, mit denen Distler in den oben zitierten Passagen – die sich am Ende von der ersten Person Plural zum Singular wandeln – seine eigene Musikvorstellung be-schreibt, lauten » Besessenheit, Beschwörung, ekstatische Entrücktheit, Erregtheit, Magie, Mittelalter, Mystik « . Ebenso geht es ihm um die besondere Gestaltung des Wortes. Für repetitive Verfahren verwendet die Rhetorik die Begriffe Anapher und Symploke.23 Bei der Anapher handelt es sich um Wortwiederholungen am Anfang einer Wortgruppe. Stünde die Wiederholung am Ende, würde man von der Epipher gesprochen, die Kombination von beidem heißt Symploke.24 Solche Wortwiederho-lungen finden sich in der Dichtung der mittelalterlichen Mystik, hier bei Mechthild von Magdeburg:25 O Du gießender Gott in Deiner Gabe!O Du fließender Gott in Deiner Liebe!O Du brennender Gott in Deiner Begier!O Du schmelzender Gott in der Einigung mit Deiner Geliebten!O Du ruhender Gott an meinen Brüsten, ohne den ich nicht sein kann!23 Für einen Hinweis bedanke ich mich bei meinem Kollegen Harald Haferland, Professor für Deutsche Literatur des Mittelalters an der Universität Osnabrück.24 Vgl. dazu die entsprechenden Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1992–2009. 25 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hrsg. von Gisela Vollmann-Profe (= Bibliothek des Mittelalters, Bd. 19), Frankfurt/M. 2003, S. 37.