Kanonik versus Rhetorik: Vom Geiste der Kirchenmusik Hugo Distlers 119 Im » Historischen Wörterbuch der Rhetorik « werden im Artikel » Anapher « zur Be-schreibung die Begriffe Nachdruck und Beschwörungsformel, Affekt, Leidenschaft und Pathos, ferner die magische Wirkung des Gleichklanges und schließlich sogar das Gemeinschaftserlebnis verwendet.26 Ähnlich finden sich zur Symploke – einem ähnlichen Phänomen repetitiven Gestaltens – die Begriffe Nachdruck und Affekt-erregung.27 Die rhetorisch-musikalischen Figurenlehren übertrugen Begriffe der Rhetorik auf musikalische Gestaltungsweisen. Distler kannte diese Lehrschriften nicht, aber er praktizierte die Musik, auf die sie sich bezogen, die geistliche Musik des 17. Jahrhunders. Die Figurenlehren verwenden den Begriff » Anaphora « erläu-tern ihn terminologisch ähnlich: Nachdruck (Gottsched, Kircher, Walther, Scheibe, Spieß), heftige Bewegung (Gottsched), heftige Leidenschaften, Affekte der Wildheit (Kircher). Burmeister schreibt: » Die anaphora ist eine Verzierung, durch die Töne in verschiedenen anderen, aber nicht in allen Stimmen der harmonia in ähnlicher Weise wiederholt werden. Sie hat zwar fugenähnlichen Charakter, ist aber dennoch keine wirkliche Fuge.« 28 Diese Definition kommt der Distlerschen freien Imitationsweise nahe, wie sie beispielhaft in » Nun komm der Heiden Heiland « zu erkennen war! In den oben analysierten Melismen aus » Aus tiefer Not « und » Wachet auf « ließen sich gleich bleibende Bausteine erkennen: Achsenton und Intervalle. Darin zeigt sich die repetitive Komponente, quasi die Beschwörungsformel – wie bei Mechthold von Magdeburg–, in den melodischen und rhythmischen Erweiterungen das erregende Moment. Was in den Motetten « Wachet auf » und in » Ich ruf zu dir « an einer einzel -nen Stimme zu erkennen ist, findet in der vorher behandelten imitatorischen Mehr-stimmigkeit in der » O Heiland reiß « und » Mit Freuden zart « in der ständigen Ver-änderung der Choralzeilensubstanz. Der strengen Kanonik bei Pepping setzt Distler eine Kombination von repetitiven und variativen Komponenten entgegen, um seine Vorstellung vom Geist evangelischer Kirchenmusik umzusetzen: Beschwörung und Erregung. Er verwendet Techniken der Rhetorik, die er in der Musik des 17. Jahr-hundert erfahren konnte. Sie wurzeln im Mittelalter und wurden in den musika-lisch-rhetorischen Figurenlehren des Barock als kompositorische Verfahren nachge-wiesen.26 C. Blasberg: Art. » Anapher « , in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 542–545.27 Chr. Hartmann: Art. » Symploke « , in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 331–333.28 Dietrich Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1985, S. 89–93, das Zitat S. 91.