Ganz oder gar nicht? – Zur Aufführung von Chopins Préludes op. 28 Martin Hansen Chopins Préludes op. 28 stellen einen beeindruckenden Mikrokosmos komposito-rischer Vielfalt dar. Dabei wirft die Sammlung mehrere Fragen zu Gattung und möglichen Aufführungsformen der 24 Stücke auf. Für den Interpreten stellt sich z. B. die Frage nach Chopins Intentionen bezüglich Anzahl und Reihenfolge der zu spielenden Präludien. Ist die heute übliche Praxis, die Préludes als Gesamtwerk vor-zutragen, im Sinne Chopins? Es gibt, wie Hartmuth Kinzler gezeigt hat, durchaus motivische Zusammenhänge und übergreifende Ideen, die Chopins Sammlung als ein zyklisches Werk erscheinen lassen, und damit auch eine Gesamtaufführung sinnvoll nahe legen.1 Leider sind die Informationen über Chopins eigene Vorträge seiner Präludien sehr spärlich, aber es steht fest, dass er die Präludien nie komplett in der Öffentlich-keit vorgetragen hat. Gesamtaufführungen von anderen Pianisten zu Chopins Leb-zeiten sind nicht bekannt. Es gibt auch keine konkreten Hinweise, dass Chopin die Stücke als Vorspiele zu anderen Werken benutzt hat. Meistens wird in den Rezen-sionen ohne nähere Angaben nur berichtet, dass Chopin einige oder ein einzelnes Stück aus der Sammlung vortrug. Konkret erwähnt wird nur Präludium Nr. 15 in Des-Dur, das schnell große Popularität erlangte.2 Dies ist charakteristischer Weise eins der wenigen längeren, abgeschlossenen Stücke der Sammlung. Aber wie könn-te Chopin sich die Aufführung von den teilweise sehr kurzen Stücken der Samm-lung außerhalb einer Gesamtaufführung vorgestellt haben? Gibt es andere Hinwei-se oder Kriterien für eine solche Auswahl außer dem persönlichen Geschmack? Der Tatsache, dass die Préludes, wie auch die Études op. 10 und op. 25, in zwei Bänden herauskamen, kann nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, da dies eine üb-liche, verkaufsfördernde Maßnahme der Zeit war. Die Auswahl von acht Präludien, die Chopin für seine Schülerin, Jane Stirling, die nicht in der Öffentlichkeit auftrat, zusammenstellte, wurde aus rein pädagogischen Gesichtspunkten und nur zu Stu-dienzwecken gemacht und gibt somit in diesem Zusammenhang auch keine kon-1 Vgl. Hartmuth Kinzler: Zwei generative Ideen in Chopins Präludiensammlung, op. 28. Beitrag auf dem Third International Congress, Chopin 1810–2010, Warschau, 2010; vgl. auch Jozef Chomiński: Fryderyk Chopin, übers. v. Bolko Schweinitz, Leipzig 1980, S. 108–112.2 Vgl. Jean-Jacques Eigeldinger: Twenty-four Preludes Op. 28: Genre, Structure, Significance, in: Cho-pin Studies I, hrsg. von Jim Samson, Cambridge 1988, S. 167–193.