Ganz oder gar nicht? – Zur Aufführung von Chopins Préludes op. 28 123 Angesichts dieser Beispiele wäre zu überlegen, ob Chopin in seinen Präludien auch mit einer Verknüpfung von Dur- und Molltonarten experimentierte. Wenn man die einzelnen Verbindungen zwischen den Präludien genauer betrachtet, wird deutlich, dass Chopin zwischen fast allen parallelen Dur- und Moll-Präludien eine Verbindung oder Überleitung komponiert hat, nicht aber umgekehrt zwischen Moll- und darauf folgenden Dur-Präludien.10 In diesem Zusammenhang ist Chopins Notierung des Pedals am Ende der ein-zelnen Präludien ein interessanter Aspekt. Es ist bemerkenswert, dass Chopin in 15 der Stücke aus op. 28 (Nr. 1, 6, 7, 9, 11, 13, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 und 24)11 kein Aufhebezeichen für das letzte Pedal für den Schluss notiert hat. Dass dies nicht aus Nachlässigkeit entstanden ist, wird am Autograph deutlich. Hier ist zu sehen, wie Chopin in zwei Fällen (Nr. 7 und 17) die ursprünglich notierten Aufhebezeichen am Ende des jeweiligen Stückes später durchgestrichen hat. In Nr. 19 hat er den letzten Pedalwechsel gestrichen, was dieselbe Wirkung hat (siehe Notenbeispiel 1). Von den fünfzehn Stücken ohne finales Aufhebezeichen stehen neun in einer Dur-Tonart. Von den übrigen neun Präludien der Sammlung haben sieben (Nr. 2, 3, 4, 8, 10, 12 und 14) keine Pedalbezeichnung für den letzten Takt. Von diesen sieben steht nur eins (Nr. 3) in einer Dur-Tonart. Insgesamt haben also nur Nr. 5 und 15 ein Aufhebe-zeichen am Ende.12 Offene finale Pedalbezeichnungen sind an sich nicht unbedingt ein Hinweis auf eine attacca-Fortsetzung zwischen zwei Stücken oder Sätzen. Man findet sie schon bei früheren Komponisten wie Ludwig van Beethoven (z. B. in op. 31, Nr. 2; op. 57; op. 58 und op. 110)13 und Ignaz Moscheles (Etüden op. 70). Be-sonders häufig kommen sie in langsamen Stücken der Romantik vor, insoweit die Komponisten detaillierte Pedalangaben notierten. Man findet sie z. B. in vierzehn von Felix Mendelssohn-Bartholdys » Liedern ohne Worte « vor. Das Ausmaß, in dem diese offenen finalen Pedalbezeichnungen in Chopins Präludien vorkommen, ist al-lerdings auffällig. Vor allem wenn man die anderen Verbindungen und Übergänge zwischen den einzelnen Präludien genauer untersucht, gewinnen diese offenen Pe-dalangaben an Bedeutung.14 Eine andere Besonderheit ist die große Zahl der Tonika-Schlussakkorde der Prä-ludien, die in einer Dur-Tonart (Nr. 1, 3, 5, 11, 13, 15, 17, 19 und 21) stehen und die nicht in Oktavlage, sondern in Terz- (in den meisten Fällen) oder Quintlage gesetzt ration, S. 342–343 (s. Anm. 8); Carl Schachter: Chopin's Fantasy, op. 49: the Two-Key Scheme, in: Cho-pin Studies I, hrsg. von Jim Samson, Cambridge 1988, S. 221–253; und William Kindermann: Directio-nal Tonality in Chopin, in: Chopin Studies I, hrsg. von Jim Samson, Cambridge 1988, S. 59–76.10 Jeffrey Kallberg: The Chopin Sources: Variants and Versions in Later Manuscripts and Printed Editi -ons. Chicago (Diss. Univ. of Chicago) 1982, S. 203.11 Thomas Higgins: Chopin Interpretation: A Study of Performance Directions in Selected Autographs and Other Sources, Ann Arbor 1969 (Diss. University of Iowa 1966), S. 74. Higgins geht aber nicht auf die mögliche Bedeutung dieser Tatsache ein.12 Die deutsche Erstausgabe (Kistner) fügte fälschlicherweise mehrere Aufhebezeichen hinzu.13 Bei Beethoven sind offene Pedalangaben nicht mit einer attacca-Fortsetzung verbunden, da er dieses immer explizit vorschrieb, wenn es erwünscht war.14 Kallberg plädiert für eine ›attacca‹-Deutung der offenen Pedalangaben am Ende der ersten Nocturnes in op. 27 und 37. Kallberg: The Chopin Sources, S. 198 (s. Anm. 10).