132 Walter Heise Der Titel des beliebten Kinderspiels » Ich sehe was, was du nicht siehst « lässt sich vielfältig variieren, zum Beispiel » Ich sehe was, was du nicht hörst « . Eben das ist ein Problem für jene, bei denen die klassische Harmonik nur ungenau verankert ist. Fehler nach klassischen Regeln hören sie schwer, allenfalls können sie sie lesend entdecken. Für die Diskrepanz von Sehen und Hören gibt es Ursachen, die in der Art des Tonsatzunterrichts liegen.Baut der Tonsatzunterricht auf die » klassische « Harmonielehre auf (sehend, schreibend, hörend), dann wird eine stabile Grundlage gelegt, auf die sich alle wei-teren Entwicklungen beziehen lassen. Allerdings bleibt offen, welche Harmonik so auf ein Gerüst zu reduzieren ist, dass die gesamte » klassische « Harmonik repräsen-tiert bleibt! Überzeugender wäre eine Harmonielehre, die sich auf einen eng be-grenzten Zeitraum beschränkte, bei der es dennoch genügend Ausnahmeregeln gäbe (vgl. die Harmonielehre L. U. Abrahams, die sich an Bachschen Choralsätzen orientierte).Studenten des ersten Nachkriegsjahrzehnts waren in der Regel nicht an » klassi-schem « Tonsatz interessiert, dessen Kenntnis ohnehin schon in der Eignungsprü-fung nachgewiesen worden war. Vielmehr galt das Interesse neueren musikalischen Entwicklungen, von denen man bisher wenig gehört hatte. Das galt vielfach für Stu-dierende wie für Lehrende. Es gab Einführungsseminare in Werke der » klassischen Moderne « , die sich Lehrende erst kurz vorher erarbeitet hatten.Reste eines Harmonielehre-Denkens blieben gleichwohl erhalten, so, wenn Carl Orffs Kompositionsstil ironisch als » Ausverkauf der Quinten(-parallelen)« bezeich-net wurde.Es bleibt die Frage, warum die » klassische « Harmonielehre heute zunehmend mehr sehend und weniger hörend und schreibend erfahren wird. Eine mögliche Antwort ist, dass Harmonielehre immer weniger als » Handwerkslehre « denn als systematisches Analyseinstrument verstanden wird. Dadurch wird vorwiegend ge-sehen und weniger gehört.Das beigefügte Notenbeispiel möge dazu anregen, fehlerhafte Akkordverbin-dungen nachzuvollziehen und weitere Fehler zu entdecken.