134 Hanns-Werner Heister Psychoanalyse, die, zumal als Theorie,3 auflösend, um nicht zu sagen ›zersetzend‹, zergliedernd statt ›ganzheitlich‹ oder gar ›holistisch‹ erscheint, weil sie objektive Gründe wie subjektive Beweggründe vor allem im Individuum, aber auch in Sub-jekt-Objekt-Welt-Beziehungen unter die Lupe nimmt, Verdrängtes, unbewusst Ge-wordenes oder Gehaltenes dem Bewusstsein vernehmbar und einsehbar macht. In Psycho- wie Musikanalyse 4 geht es darum, Verdecktes aufzuspüren; es geht darum, latente, tieferliegende Inhalte und Strukturen in den und unterhalb der manifesten aufzudecken sowie diese dadurch bewusst, wahrnehmbar und fühlbar werden zu lassen. Beide machen das, was im Gehörten zwar enthalten ist, aber unerkannt-verborgen und unbewusst, ›sichtbar‹ im Sinn des Freudschen Aufklärungsziels » Wo Es war, soll Ich werden « .5 Wer Musik-Analysen macht, setzt entgegen postmodern-neoliberalen Trends eines erkenntnistheoretisch subjektiv-idealistisch fundierten » Konstruktivismus « mindes-tens implizit voraus, dass es so etwas wie objektive Wahrheit in Bezug auf das je-weils analysierte Musikobjekt gibt. Das ist nicht, wie gern als Abwehr eines Wahr-heitsanspruchs getan, mit absoluter Wahrheit zu verwechseln. Die gibt es generell wie speziell hier nicht 6 bzw. nur als perspektivischen Fluchtpunkt, dem wir uns in einem unendlichen Prozess des Erkennens, Forschens, Analysierens annähern kön-nen (und sollten). Faktisch haben wir damit nur eine relative (aber eben doch, so-weit werkbezogen und -adäquat, objektive) Wahrheit, historisch veränderbar – jede neue Quelle bei notierten Werken kann zu neuen Erkenntnissen führen, und analog dazu jede neu entdeckte Aufnahme bei Titeln und Themen improvisierter Musik oder moderner medialisierter Populärmusik. Diese unumgängliche Relativität ist aber eben nicht relativistische Beliebigkeit, dass man/frau es so hören und sehen kann, aber auch anders, sondern als wirkliche wissenschaftliche Erkenntnis bezogen auf das Objekt, den Gegenstand der Analyse. Und sie wird durch dessen Beschaf-fenheit bestimmt.3 Als Therapie steht sie hier nicht zur Debatte. Die Wichtigkeit der Theorie-Dimension der Psycho-analyse betont z. B. Mario Erdheim. Siehe Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Un-bewußtheit: Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt a. M. 1984 (1/1982); Mario Erdheim: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur: Aufsätze 1980–1987, Frankfurt a. M. 1988.4 Ausführliche Bemerkungen auch zur Psychoanalyse im Hinblick auf Musik-Analyse, aber mit ande -rer Perspektive und Fokussierung als hier bei Gerhard Schmitt: Musikalische Analyse und Wahrneh-mung. Grundlegung einer interdisziplinären Systematik zur semantischen Analyse von Musik und Sprache, dargestellt an ausgewählten Beispielen zeitgenössischer Klangkunst (= Beiträge zur syste-matischen Musikwissenschaft Band 16), Diss., Osnabrück 2010.5 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), 31. Vorle-sung (Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit), in: Sigmund Freud: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Bd. I, Frankfurt a. M. 1982, S. 496–516, Zi-tat S. 516.6 Es gibt sie natürlich in Religion und Theologie. Aber das ist Glaube und damit das Gegenteil von Wissen, wirklicher Wahrheit und Wissenschaft.