Musik-Analyse, Psycho-Analyse – » und ein bißchen Adorno ist auch dabei « 139 lich irgendetwas, es sei denn, sie schlössen die Augen, aber sie sehen nichts, das mit dem Kern der Kommunikation unmittelbar zusammenhängt. Die Situation ist inso-weit mit der der Musikrezeption von reinen Tonträgern vergleichbar. In charakteris-tischer Asymmetrie hören die Analysierenden nicht nur, sondern sehen auch.19 Ich sehe was und höre nichts Weder Sehen noch Hören sind Garanten der Wahrheit; sie sind, wie auch Denken, fehlbar. Bei optischen wie bei akustischen Zeichensystemen sind Fehldeutungen ge-rade im Hinblick auf Semantik – in Intention wie Realisierung – selbstverständlich möglich, nicht zuletzt auch in therapeutischem Zusammenhang: Ein amerikanischer Arzt hatte die Gewohnheit, seine Patienten erst einmal physiognomisch zu prüfen. Das wickelte sich so ab, daß er sie längere Zeit schweigend betrachtete, während er eifrig einen Kaugummi im Munde um-herschob » Es ist sehr nett von Ihnen, Herr Doktor, daß Sie mich immerfort un-terhalten « , sagte eine steinalte Dame, die des Arztes Mundbewegungen miß-deutete. » Aber machen Sie sich bitte keine Mühe, ich bin vollständig taub.« 20 Dass beide Male die Frau rezeptiv-passiv ist, der männliche Gegenpart dagegen ak-tiv, verweist im Übrigen auf Stereotypen der Geschlechterverhältnisse. Die Situation ist zugleich eine Karikatur der ›Übertragung‹: Wie AnalysandInnen projiziert die alte Dame Eigenes – die Vorstellung, er spreche zu ihr – auf ihr Gegenüber. Die Re-zipierende interpretiert die manifest für sie lautlos-stumme Kommunikation als la-tent laut und damit in diesem Fall worthaltig, semantisch, obwohl es sich um eine asemantische gestisch-motionale Produktion handelt. Häufiger ist aufgrund der Asymmetrie von Produktion und Rezeption der umgekehrte Fall, dass nämlich die Musizierenden (oder Redenden) mehr oder minder verzweifelt versuchen, etwas zu sagen, und viele Hörende verstehen es nicht oder wollen nicht verständig hören, sondern müssen fühlen.21 Hier wird in Musik, entgegen dem geläufigen Vorwurf (der einem Vorwand zum Nicht-Mitdenken gleichkommt), nicht etwas hineininter-19 Ausführlich dazu Hanns-Werner Heister: Zur Codierung und Decodierung von Bedeutungen im Mu-sikprozess, In: psychosozial, 35. Jg. Nr. 130, 2012, Heft 4 (Schwerpunktthema: Musik und Psychoana-lyse hören voneinander. Was die Psychoanalyse von der Musik zu lernen hat, hrsg. von Johannes Picht), Gießen, S. 33–52. 20 Selecta [Ärztemagazin] Nr. 23 (1968), S. 1684. Ein typischer Wanderwitz: » Mathias sitzt im Zug und kaut an seinem Kaugummi herum. Ihm gegenüber sitzt eine alte Dame und sagt: ›Das ist ja lieb von dir, mein Junge, daß du mir die ganze Zeit etwas erzählst. Aber leider bin ich taub und verstehe kein Wort.‹« Siehe z. B. » Flohkiste « [Kinderzeitschrift] 2 (2001), S. 28.21 Tibor Kneif ideologisiert und universalisiert (jedenfalls für damals neue Musik) entsprechende Sach-verhalte; s. Tibor Kneif: Anleitung zum Nichtverstehen eines Klangobjekts, in: Musik und Verstehen. Aufsätze zur semiotischen Theorie, Ästhetik und Soziologie der musikalischen Rezeption, hrsg. von Peter Faltin und Hans-Peter Reinecke, Köln 1973, S. 148–170. Neuerdings mit ähnlicher Tendenz Her-mann Kalkofen: Sich selbst bezeichnende Zeichen, in: IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bild-wissenschaft, Image 7, S. 56–73.