142 Hanns-Werner Heister Vieles spricht dafür, dass die Entlastung vom Musik-Verstehen, also primär der ko-gnitiven Schicht und denotativer Bedeutungen als Kern, in der Rezeption bei vielen jedenfalls die emotive und physiologische Wirkung verstärkt: Das Körperliche und das Unbewusste sind von den Anstrengungen des Bewusstseins und des Ichs entlas-tet und können sich sozusagen mit sich selbst beschäftigen bzw. äußere Reize von fremd-vertrauten Objekten wie (geliebter) Musik selektiv und hingebungsvoll ins Subjektive einlassen. Das ›Lustprinzip‹ siegt über das ›Realitätsprinzip‹, zwar nicht auf der ganzen Linie, aber doch auf der halben. Das auffällige Stichwort » verkrie-chen « verweist auf eine weiterführende Spur: Es geht um Rückzug, letztlich an die Mutterbrust oder gar in den Mutterschoß bzw. den Uterus samt dem, was Romain Rolland im Briefwechsel mit Freud » ozeanisches Gefühl « nannte – und was Freud durchaus kritisch sah. Es handelt sich zweifellos um einen » ästhetischen Aneig-nungsprozess « , aber einen dem musik-analytischen ziemlich entgegensetzten Typ.Eine noch komplexere, absichtliche Abspaltung des nur Hörbaren verkehrt die erwähnte asymmetrische Situation des psychoanalytischen Setting so, dass sich der Musikant wie ein Als-Ob-Analysand verhält und sich nur dem ihm psychisch harm-los erscheinenden Teil der Mimetischen Zeremonie zuwendet. Der sehr fromme Geiger Chretien Urhan (1790–1845)26 durfte vertragsgemäß als erster Violinist und Konzertmeister an der Pariser Oper stets mit dem Rücken zur Bühne sitzen. So wur -den seine religiösen Gefühle nicht durch den Anblick der Szene verletzt. Es hat grandiose Züge, wie hier jemand einen geradezu kultischen Glauben an die Musik und an ein anderes, irreales höheres Wesen miteinander in Einklang bringt, gewis-sermaßen im Sinn der scholastischen doppelten Wahrheit. Er trickst ein überstren-ges Über-Ich mit der freiwilligen Reduktion der Sinnlichkeit aus. Grundlage ist wohl die » Spaltung « in ein nur » gutes « und nur » böses « Objekt, ein Abwehrversuch des frühkindlichen, noch nicht der Verdrängung fähigen Ichs,27 hier also ›Musik‹ versus ›Theater‹. Eine verdeckte Pointe des Fallbeispiels ist es, dass Urhan den sexu-ellen, also aus seiner Sicht unsittlichen Gehalt der Musik schlicht verleugnet, die ja Theatermusik bleibt, auch wenn er nicht hinschaut, und durch eine Art Abspaltung alles aufs Theater schiebt nach dem Song-Motto » Put the blame on me « .So weit, so gut. Freilich gibt es doch in der Praxis des Musiktheaters Koordina-tionsprobleme zwischen Elementen des Gesamtkunstwerks und daraus folgende Probleme der Synchronizität sowie potentielle und in diesem Fall wohl auch fakti-sche Kollisionen, wenn bei einem optisch-akustischen Gesamtkunstwerk jemand standhaft nur spielt, aber nicht hinschaut, was szenisch-optisch während seines Spiels passiert. Im Alltag allerdings verhält er sich umgekehrt: Der rabiaten Absti-nenz in der Oper scheint im Haus ein Hang zum Voyeurismus kompensatorisch zu antworten.26 Anon.: Crétien Urhan, in: http://en.wikipedia.org/wiki/Chr%C3%A9tien_ Urhan (Zugriff am 10.6.2011). 27 Vgl. z. B. Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel: Handbuch der psychoanalytischen Grundbegriffe, Stuttgart, Berlin und Köln 2000, S. 666.