Musik-Analyse, Psycho-Analyse – » und ein bißchen Adorno ist auch dabei « 143 Je l'ai vu plus d'une fois, entrer chez ma femme, qu'il aimait beaucoup, s'as-seoir au coin du feu, y rester un quart d'heure sans prononcer une parole, puis se levant, lui dire: ›Adieu, chère madame Legouvé, j'avais besoin de vous voir.‹28 Hier bevorzugte er also Sehen statt Hören, jedenfalls wenn es sich um eine schöne Frau handelte, und Schweigen statt Musik.Sichtbares Unhörbares – Pausen als Opus Eine andere Erscheinungsform der Konfiguration ›Sehen statt Hören‹ entsteht aus Möglichkeiten der Notation – und als Negation. Notation als in spezifischer Form sichtbare und sistierte Musik lässt sich unter anderem auch so deuten, dass mit ihr die optische Dimension aus dem Zusammenhang ›Musik als Mimetische Zeremo-nie‹ in gänzlich verwandelter Form wiederkehrt. Hierdurch wird z. B. erst die Kon-figuration ›Ich sehe was, was du nicht hörst‹ möglich,29 jedenfalls in großem Maß-stab. An diesem Punkt trennen sich einmal mehr wieder die Wege von Musik- und Psychoanalyse. Die Musik-Analyse nach Noten ist zwar nicht universal, sondern be-trifft nur den freilich nicht unerheblichen Strang der europäischen Kunstmusik-tradition seit dem Frühfeudalismus. Sie entspricht aber nicht dem psychoanalyti-schen, betont prozessualen Setting.Gegen den Klang als das Hörbare kann sich die Notation als das Sichtbare, und als spezifische Existenzform 30 innerhalb des Musikprozesses, sogar als relativ eigen-ständiges binnenmusikalisches Zeichensystem verselbständigen. Eine ältere Aus-prägung ist ›Augenmusik‹, eine neuere sind ›Graphische Notation‹ oder gar ›Musi-kalische Graphik‹.Die bekannte und beliebte Kreuzstruktur des B-A-C-H,31 tonsatztechnisch unter anderem eine Sequenz, ist nicht zu hören, sondern nur zu sehen; und auch optisch-notationell ergibt sich nicht das gewöhnliche rechtwinklig-vertikale Kreuz, sondern die griechische Variante, und auch die eher in Form eines liegenden Chi (X) als in der üblichen Senkrechten. Dennoch wird er von Bach und anderen so gemeint und entsprechend im Bedeutungs- und Strukturgefüge seines Tonsatzes verwendet, wei-ter aber dann der oder mindestens eine zentrale Figur des Miserere – so Dufay, Jos-quin schon, ebenso schließlich das Initium der exemplarischen » Sequenz « , des Dies 28 Ernest Legouvé: Soixante ans de souvenirs, Bd. 2, Paris 1887, S. 117–123, zit. nach Jean-Marc War-szawski: Urhan Christian [Chrétien Urhan] 1790–1845, in: http://www.musicologie.org/Biographies/u/uhran.html (Version vom 02.03.2006, Zugriff am 10.06.2011). Es ist, ohne Kunst-Kontext, der Kom-munikations-Situation und dem » Setting « bei M. Abramovic vergleichbar.29 Vergleichbares ohne Notation wären v. a. schwarzafrikanische polymetrische Muster, die nur unter Einbeziehung des Sehens voll wahrnehmbar und verständlich werden.30 Zu Begriff und Sachverhalt vgl. Hanns-Werner Heister: Kybernetik, Fuzzy Logic und die Existenzfor-men der Musik. Ein vorläufiger Entwurf, in: Innovation aus Tradition – Festschrift Hermann Rauhe zum 80. Geburtstag, Mainz 2010, S. 93–115.31 Ausführlich dazu u. a. Günter Hartmann: Die Tonfolge B-A-C-H. Zur Emblematik des Kreuzes im Werk Joh. Seb. Bachs, 2 Bde. (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen, der Musik, hrsg. von Martin Vogel, Bd. 80 und 81), Bonn 1996.