148 Hanns-Werner Heister Rilke meint das alles ganz bewusst auch, eben im Sinne eines Supra-Impressionis-mus oder Naturalismus, unmittelbare technische Reproduktion der Natur als sol-cher, als Bedeutung ohne Deutung und Analyse, als Zeichen ohne Vermittlung durch irgendwelche Kunst.Mit höchster Kunst dagegen vermittelt Alban Berg im » Wozzeck « geheimnisvolle optische Zeichen der Natur im Text mit Optik und sichtbarer Semantik der Nota-tion. Und mit unsichtbarer Kultur, mit zahlensemantisch aufgeladenen, diastemati-schen und rhythmischen Strukturen. Im Gespräch mit dem Doktor, Akt 1, Szene 4, T. 561 (ein einziger 7/4-Takt 46 ) lautet der Text: » Linienkreise – Figuren – Wer das le-sen könnte!« 47 In diesem Musterbeispiel für » Augenmusik « können wir eben diese ominösen Zeichen lesen, also sehen, und andeutungsweise sogar hören, insoweit die zweidimensionale Räumlichkeit in die der Musik intermodal-synästhetisch übertragen und assoziiert wird. Am auffälligsten ist die so gut wie notationell mög-lich kreisförmige Figur, durch jeweils kontrapunktisch-gegenläufig auf- und abstei-gende Linien im ersten und zweiten Solo-Violoncello mit dem Ganzton-Hexachord d e fis gis b c hin und zurück c B Gis Fis E D im 1. Violoncello und von c abwärtsge-hend und wieder aufsteigende im 2. Solo-Violoncello. Die Kreisfigur entsteht also in leicht verschobener diastematischer Symmetrie (von d aus, von c aus) mit jeweils bogenförmiger, 11-töniger Melodie. Die Oberstimme wie untere Gegenstimme sind rhythmisch als 5+6 artikuliert; die Symmetrieachse ist der jeweils sechste Ton. Die Melodie des 2. Solo-Violoncello ist zugleich die Diminution der Vokallinie Woz-zecks. Einen nochmals diminuierten und zugleich verkürzten Nachhall bringen ers-tes und zweites Solovioloncello (as-b-c-b-as und fis-e-d-e-fis), also zwei Viertonfigu-ren, die sich, ebenfalls selber symmetrisch, in Gegenbewegung ebenfalls zur Ganz-tonleiter ergänzen. Diese bildet schließlich auch die Grundlage für die beiden wei-tausholenden, ebenfalls kontrapunktisch-gegenläufig kreisenden Linien in Celesta und Harfe. Berg baut die » Linienkreise « hier aber noch kunstvoller. Das erste bis dritte Viertel der Celesta-Stimme bildet einen symmetrischen Bogen nach oben von d 1 über d 2 als Achse zurück nach d 1; in der Harfe. dasselbe nach unten e 1 … e … e 1. Das sechste bis siebte Viertel wiederholt, mit einer Phrasenverschränkung, diese Konfiguration. Im Mittelteil, also viertes bis fünftes Viertel, treibt Berg jedoch diese gegenläufige Symmetrie auf die Spitze. Wiederum mit Phrasenverschränkungen, zu Beginn, ergeben sich in der Celesta der Bogen d 2 -e 1 -d 2 und in der Harfe der Bogen e 1 -d 2 -e 1. Als optische Figur ist das allerdings kein Kreis, sondern eine andere, im christ -lichen Abendland fast allgegenwärtige: das Kreuz, deutlich als liegendes X.48 46 Alban Berg fordert » a tempo Viertel = 88–96 « , d. h. auf jeden Taktteil (1. Viertel oder 2. Achtel) entfällt eine Steigerung um knapp mehr als 1 MM. Sofort mit Beginn der 13. Variation T. 561 fällt allerdings das Tempo ruckartig » Breit « auf Viertel entspricht 80 zurück.47 Alban Berg: Georg Buechners [sic] Wozzeck. Oper in 3 Akten (15 Szenen) op. 7. Partitur. Nach den hinterlassenen endgültigen Korrekturen des Komponisten revidiert von H. E. Apostel (1955), Wien 1955.48 Dieses als notationell nach dem Muster des B-A-C-H gebildetes um 90° Grad gedrehtes Andreas -kreuz zu deuten mag noch hingehen. Es aber überdies als Christusmonogramm zu lesen und gar