154 Dietrich Helms ziologen dient mir vielmehr als Beleg für ein » Störungssymptom « , das in der Mu-sikwissenschaft bis heute zu spüren ist. Während sie über ein fein geschliffenes, dif -ferenziertes Instrumentarium zur Beschreibung von Qualitäten notierter Musik im Sinne Adornos verfügt, steht sie weitgehend sprachlos da vor den Qualitäten erklin-gender, bzw. aufgeführter, musizierter beziehungsweise vielleicht » performter « Mu-sik.5 Was beim wissenschaftlichen Sprechen über Musik sehr häufig außer Acht ge-lassen wird, ist die Wirkung von Musik auf den Hörer,6 die ganz offenbar unabhän-gig von Adornos autonomieästhetischen Qualitätsmaßstäben existieren kann. Sein utopischer » Expertenhörer « ,7 der die Form einer Komposition analysiert, während sie sich entfaltet, ist letztendlich identisch mit dem musikwissenschaftlichen Leser eines Notentextes, nur dass ersterer keine Chance hat zurückzublättern. Mit dem im Konzertsaal oder am Lautsprecher zu erwartenden Hörer hat dieser » Experte « aller-dings kaum etwas gemein. Musikwissenschaftliche Analyse fragt bisher vornehmlich nach formalen Kon-struktionsmerkmalen, die im Notentext abgebildet sind, kaum jedoch nach den Qualitäten, die ein Musikstück im Konzertsaal oder auf Tonträger wirkungsvoll und erfolgreich machen. In der Kommunikation zwischen Musikern und Hörern im Konzertsaal und an den Lautsprechern gelten andere Qualitätsmerkmale als in der-jenigen zwischen Komponisten und ihren musikwissenschaftlichen Interpreten. Hierfür ist nicht nur der von Adorno beobachtete Erfolg Sibelius' ein Beleg, sondern auch der überwältigende Siegeszug der populären Musik in der Gunst der Hörer. Letztere gewinnt angesichts einer relativ großen Standardisierung von Rhythmik, Harmonik und Melodik ihre Individualität zu einem großen Teil aus der Art und Weise, wie die Musik performt wird, wie die Stimmen und Instrumente klingen, wie der Klang im Tonstudio abgemischt wurde usw. Hier spielen Komponisten und Produzenten in der Rezeption nur selten eine Rolle. Aber auch bei der Rezeption von Kunstmusik kann das, was man aus traditioneller Perspektive eigentlich als performativen Kontext bezeichnet, zur Hauptsache und zu einer eigenen Qualität werden, die für viele Hörer in den Vordergrund rückt. Man denke nur an vergange-ne und aktuelle Popstars der Kunstmusikszene wie die Drei Tenöre, Anna Netrebko oder David Garrett, deren Konzerte nicht wegen der gespielten und gesungenen Werke ausverkauft waren und sind, sondern wegen ihrer Performance. Doch wie kussion z. B. Vesa Sirén: Adorno vs. Sibelius. Seconds out for the Final Round, in: Finnish Musical Quarterly 4 (2002), S. 46-55; Habakuk Traber: Adorno contra Sibelius, in: Sibelius in Deutschland, hrsg. v. Ahti Jäntti, Annemarie Vogt und Marion Holtkamp, Berlin 2000, S. 233–248. Vgl. zur Sibelius Rezeption umfassend auch Tomi Mäkelä: Poesie in der Luft. Jean Sibelius: Studien zu Leben und Werk, Wiesbaden 2007.5 Allein die Tatsache, dass es schwer fällt, einen befriedigenden Begriff für die Musik zu finden, die au-ßerhalb der Partitur existiert, ist bereits ein Zeichen für diese Störung. 6 Selbstverständlich wirkt Musik auch auf Hörerinnen, wird von Leserinnen studiert und von Musike-rinnen gemacht. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text ausschließlich die maskuline Form ver -wendet. Sie steht hier für beide Geschlechter. 7 Theodor W. Adorno: Typen musikalischen Verhaltens, in: Theodor W. Adorno. Einleitung in die Mu-siksoziologie, hrsg. von Rolf Tiedemann (= Gesammelte Schriften 14), Frankfurt a. M. 1997, S. 178–198, hier S. 182.