» Von Interesse ist die Wirkung « 161 gebildetes oder gar absolutes Gehör verfügen.25 Dafür erkennen sie jedoch – gerade im Bereich der populären Musik – sehr gut z. B. Unterschiede zwischen einzelnen Musikern und Bands. Analysiert man also die Wirkung von aufgeführter Musik auf Hörer, d. h. die Kommunikation zwischen Musikern und ihrem Publikum, wie hier beabsichtigt auf der Basis eines Notentextes, muss man sich im Klaren darüber sein, dass dieser ein sekundäres Medium ist, das zwar die Vorlage für die Handlungen der Musiker auf der Bühne liefert, nicht jedoch das repräsentiert, was die Hörer dann de facto wahrnehmen, d. h. die akustischen und optischen Reize, die durch die Handlungen der Musiker entstehen. Eine solche Analyse, die auf der Grundlage der Schriftform Schlüsse auf eine performative Situation ziehen will, klammert das aus, was eigentlich im Zentrum einer Aufführung steht: die Individualität der Handlungen von Musikern, d. h. das, was man in der Kunstmusik Interpretation nennt, den konkreten performativen Kontext und damit auch den Hörer als Indivi-duum in einem Kontext.Anders als die Schallaufzeichnung oder das Konzert, die das Handeln von Musi-kern beobachtbar machen, bleibt der Notentext immer das Ergebnis der Handlun-gen eines Komponisten. Die in der Analyse beobachtete Hörerposition muss daher ursächlich auf den Komponisten zurückgeführt werden. Es liegt also letztendlich eine vergleichbare Hörerposition vor, wie sie in der Terminologie der Rezeptions-ästhetik der 1970er und 1980er Jahre als » impliziter Hörer « bezeichnet wurde.26 Der hier verwendete Ansatz knüpft allerdings in seiner Begrifflichkeit und theoretischen Grundlegung nicht an diesen Ansatz an.27 Auch die Zielsetzung unterscheidet sich: Es geht im Folgenden nicht so sehr darum, die Bedeutungszuschreibungen histori-scher oder aktueller Hörer herauszuarbeiten, sondern vielmehr die Stellen im No-tentext aufzuzeigen, die potentiell eine bestimmte Wirkung auf Hörer haben oder gehabt haben könnten. Am Ende steht nicht die Feststellung, was sich » der « Hörer einer bestimmten Zeit gedacht hat, wenn er ein bestimmtes Stück hörte. Hierdurch würde, begründet mit der Objekthaftigkeit des Noten-Textes, ein scheinbar objekti-ver, » idealer « Hörer konstruiert. Es geht vielmehr darum zu erklären, welche Mittel ein Komponist seinen musikalischen Interpreten an die Hand gegeben hat, um zu bewirken, dass das Publikum im Konzert nachdenkt, träumt, begeistert mitgeht, zu 25 Clarke weist zu Recht darauf hin, dass die meisten Hörer zwar sehr genaue Vorstellungen davon ha -ben, was für ein Genre sie hören, jedoch keine Aussagen über Intervalle, Tonart, Taktart usw. machen könnten. Wissen über komplexe Eigenschaften der Musik ist offensichtlich unabhängig von dem, was ein Musikwissenschaftler als Material der Musik bezeichnen würde. S. Eric F. Clarke: Ways of Liste -ning. An Ecological Approach to the Perception of Musical Meaning, Oxford 2005, S. 15–16. 26 Vgl. z. B. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 21979, als Vorstudien, sowie ders.: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wir -kung, München 4. Aufl. 1994, bes. S. 50-67. 27 Vgl. z. B. Rainer Cadenbach: Der implizite Hörer? Zum Begriff einer » Rezeptionsästhetik « als musik-wissenschaftlicher Disziplin, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissen -schaft, hrsg. von Hermann Danuser und Friedhelm Kummacher, Laaber 1991, S. 133–164. Cadenbach geht u. a. vom einem Sinnbegriff aus, der, weil auf die Referenz- bzw. Verweisfunktion beschränkt, vor allem auf die Unterschiede zwischen Musik und Literatur abhebt, statt auf ihre Gemeinsamkei -ten (ebd., S. 140–141).