162 Dietrich Helms Tränen gerührt wird, gelangweilt abschweift, verständnislos reagiert. Verallgemei-nert werden hier nicht die Hörer, sondern bestimmte Stellen der Komposition, de-nen das Potential zugeschrieben wird, als Zeichen in der Kommunikation eine be-stimmte Funktion hervorzurufen. Mein Ansatz bleibt im Grunde musikanalytisch. Er schließt jedoch nicht aus, dass in einem weiteren Schritt empirische oder histori-sche Forschungen angestellt werden, um die – wie jede Interpretation in den Kunst- und Literaturwissenschaften – verallgemeinernden und subjektiven Aussagen inter-subjektiv für eine bestimmte Menge von Hörern in einem bestimmten Kontext zu bestätigen. Spricht man vom » impliziten Hörer « , ist zu bedenken, dass in einem Notentext weitere Perspektiven enthalten sind. Der » implizite Hörer « der Musik ist nicht der Parallelfall des » impliziten Lesers « der Literatur. Zahlreiche Notentexte sind auch mit dem Blick auf Leser zugerichtet und das betrifft nicht nur die äußere Form wie z. B. die Partitur, die ursprünglich für das lesende Studium von Notentexten einge-führt wurde. Ikonische, d. h. abbildende Zeichen, aber auch Symbole wie die Kreuz-form der Tonfolge b a c h oder zum Zeichen der Trauer geschwärzte Noten, richten sich nur an Leser, nicht aber an Hörer. Viele formale Merkmale wie der Krebs oder die Umkehrung des Kontrapunkts sind von Lesern, kaum aber von Hörern wahrzu-nehmen. Notentexte enthalten auch einen » impliziten Musiker « : Fingersätze z. B., die die Ausführung erleichtern, aber weder den Leser noch den Hörer interessieren. Schließlich ist auch die Position eines » impliziten Komponisten « erkennbar, wenn man z. B. nach Merkmalen eines persönlichen Stils fragt oder in Kompositionen von Bach oder Schönberg nach gematrisch verschlüsselten Signaturen des Komponisten-namens sucht. Wie der Autor eines Romans aus der Perspektive eines fiktiven Ichs sprechen kann, ist es auch einem Komponisten möglich, in einem gewissen Maße ein Ich in der Komposition darzustellen. Von Interesse ist in diesem Artikel die Wirkung im Konzertsaal und so bleiben hier diejenigen Funktionen weitgehend ausgeklammert, die Noten für die Kommu-nikation zwischen Komponisten und ihren Interpreten (Musikern und Lesern, d. h. musikwissenschaftlich Gebildeten) haben. Referentiell verweisen Notenzeichen für den Musiker, der durch das Medium der Noten mit einem Komponisten kommuni-ziert, zunächst nicht auf außermusikalische Bedeutungen, sondern ganz grundsätz-lich auf die Handlungen, die notwendig sind, die Komposition hervorzubringen: den mehr oder weniger starken Druck auf eine Taste, das Abgreifen eines Bundes, das Zupfen oder Streichen einer Saite. Sogenannte Augenmusik, d. h. ikonische Ab-bildungen außermusikalischer Sachverhalte im Notenbild, können für den Leser von Noten ebenfalls referentielle Funktionen erfüllen, die der Hörer nicht wahr-nimmt. Grundsätzlich haben Noten immer auch eine appellative bzw. konative Funktion, denn sie sollen ja den Musiker dazu auffordern, das notierte Stück zu spielen – und zwar möglichst so, wie es geschrieben steht (hierzu verfügt die Nota-tion als Urkunde des Willens des Komponisten über eine sehr hohe Autorität im Kommunikationssystem). Ein Titelbild, der große Name eines Komponisten, der Ti-tel der Komposition und Stellen, die das Können des Interpreten herausfordern,