164 Dietrich Helms außerhalb des Notentextes verweisen. Um diese Enklaven zu finden braucht es frei-lich den Kontext als Stifter von Sinn. Eine Gruppe von Noten verweist außer auf ihre eigene Abfolge und den zugrunde liegenden formalen Regeln streng genom-men nur auf eines: die Handlungen der Interpreten, die aus geschriebener Musik hörbare Musik machen (diese Referentialität haben wir für den hier untersuchten Fall ausgeschlossen). Das im Zusammenhang mit der Semantik von Musik häufig angeführte Seufzer-Motiv der fallenden kleinen Sekund wird als Seufzer nur er-kennbar, wenn z. B. Textunterlegung, Titel der Komposition, biographisches Wissen um den Komponisten oder auch nur die Erwartungen des individuellen Hörers einen Kontext herstellen, der die fallende Sekund als Seufzer erkennbar macht. Hier liegt der zentrale Unterschied zwischen Beschreibungen der Referentialität von Sprache und Musik. Das Nachdenken über Sprache verfügt mit Lexik und Gramma-tik über das Konstrukt einer » langue « als standardisiertem, objektivierten Kontext, der die » parole « , d. h. das tatsächliche Sprechen, in ihrer Verweisfunktion stabili-siert. Musik dagegen kennt – trotz der Versuche der barocken Figurenlehre – nur Regelsysteme für ihre Formung, nicht jedoch ein mit der Lexik vergleichbares Sys-tem von Verweisen, das interkontextuelle Gültigkeit beanspruchen kann. Für das Funktionieren von Musik beim Hörer ist eine solche lexikalische, intersubjektiv gül-tige Bedeutung überhaupt nicht notwendig. Wichtig ist nur, dass ihm die Musik An-haltspunkte für Assoziationen gibt, dass sie die Funktion des Verweisens erfüllt – worauf, kann außerhalb der Musikwissenschaft ganz individuell entschieden wer-den.Das Beispiel von Sibelius' Opus 26 zeigt deutlich, dass es in der Musik keine kontextunabhängige Referentialität gibt: Ohne den Titel » Finlandia « oder ohne Wis-sen um den Kontext der Uraufführung lösen sich die semantischen Enklaven des Notentextes im Nichts auf; – oder sollte man besser sagen: … lösen sich alle seman-tischen Enklaven für den Musikwissenschaftler im Nichts auf? So macht ein Musik-stück – und sei es noch so sehr als autonomes Kunstwerk konzipiert – für den Hörer außerhalb des Wissenschaftsdiskurses immer auch Sinn durch den ganz individuel-len Kontext – z. B. durch Erinnerungen an Erlebnisse zu denen dieses den » Sound-track « lieferte, z. B. einen Skandinavienurlaub. Kompositionen sind » eingängig « , wenn sie leicht assoziierbar sind, wenn sie einfach an Erfahrungen, Vorwissen, aktu-ell erlebte und erinnerte Kontexte anschließbar sind und vom Hörer ohne Mühe » angeeignet « werden können. Dazu braucht es keine intersubjektiv gültigen, stan-dardisierten Zeichen im Notentext. Viel häufiger als einzelne Teile der Komposition wird das gesamte Stück zu einem einzigen großen Zeichen, wenn Hörer untereinan-der mit und über Musik kommunizieren: » Weißt du noch, als wir dieses Stück zum ersten Mal hörten …?« Wahrgenommene Zeichen – musikalische wie außermusika-lische – schaffen immer den Kontext für die folgenden. Bereits am Anfang, bei der Auswahl der richtigen CD für den richtigen Moment, beim Betreten des Konzert-saals, beim Lesen des Titels entscheidet sich, was man hört, und man kann aus die-sem Kontext kaum noch heraus. Der programmatische Titel » Finlandia « steuert un-weigerlich die Hörerwartungen und damit auch, was man de facto hört.