» Von Interesse ist die Wirkung « 165 In seiner Rolle als Wissenschaftler sucht der Musikwissenschaftler allerdings nach intersubjektiv gültigen Bedeutungen, die er im Wollen des Komponisten und dem Kontext der Entstehung des Stücks zu finden hofft. Kennt man den Kontext von Komposition und Uraufführung, lässt sich eine spezifische Bedeutung konstru-ieren, der im Diskurs der Wissenschaft eine hohe Autorität zugesprochen wird: Die ursprüngliche Fassung der » Finlandia « wurde am 4. November 1899 am Schwedi-schen Theater in Helsinki auf den sogenannten Pressetagen aufgeführt, vordergrün-dig eine Benefiz-Veranstaltung für die Pensionskasse der Journalisten, von den Be-teiligten jedoch auch als getarnte Demonstration für Pressefreiheit in einem von Russland regierten Großfürstentum Finnland verstanden.30 Das Stück war das letzte von sechs Vorspielen zu ebenso vielen Lebenden Bildern, die die Geschichte Finn-lands repräsentieren sollten. Das sechste Tableau vivant, mit dem Titel » Suomi herää « bzw. schwedisch » Finland uppvaknar « , d. h. » Finnland erwacht « ,31 reprä-sentierte den Fortschritt, den das russische Großfürstentum im 19. Jahrhundert un-ter Zar Alexander II. gemacht hatte: Neben großen Intellektuellen wie dem Dichter Johan Ludvig Runeberg und dem Sammler und Verfasser des Nationalepos » Kale-vala « Elias Lönnrot wurden die erste Volksschule sowie die erste Lokomotive ge-zeigt. Eine junge Frau rezitierte als » Geist der Geschichte « ein Gedicht, das die Ge-genwart als den Mai Finnlands bezeichnete und die Ernte der jetzt auszubringen-den Saat in der Zukunft Gott anvertraute.32 In einer der ersten umfangreichen Ana-lysen der » Finlandia « hat James Hepokoski gezeigt, wie die Musik auf diesen Auf-führungskontext des Lebenden Bildes bezogen werden kann:33 Angefangen mit den fis-Moll-» Fesseln « 34 der Blechbläser und dem dunklen Andante sostenuto, die die Unfreiheit Finnlands am Anfang des 19. Jahrhunderts repräsentieren könnten, über das Erwachen des Landes im lebhaften Allegro moderato ab Takt 74 und die Stabili-sierung des Satzes in den wiederholten Takten 99–124, in denen das Stück endlich zu seiner Tonart, As-Dur, und Finnland symbolisch zu seiner gegenwärtigen, dem Fortschritt zugewandten Identität findet, bis hin zum hymnischen Schluss, der end-lich die authentische As-Dur Kadenz mit einem deutlichen Quintsprung im Bass (T. 208f.) bringt und damit zukünftige Stabilität und Eigenständigkeit des Landes sowie ein gutes Ende verspricht.35 Einen direkten Verweis auf einen der Gegenstände, die auf der Bühne des Schwedischen Theaters zu sehen waren, findet man nur zu Beginn des Allegro-Teils. In Takt 95 setzt auf der zweiten Schlagzeit ein Motiv aus fünf Vierteln ein, das mehrmals wiederholt und jeweils auf seinem ersten Ton stark betont wird. Erst mit 30 Vgl. die zusammenfassende Darstellung in Brigitte Pinder: Form und Inhalt der symphonischen Ton-dichtungen von Sibelius. Probleme und Lösungswege, Berlin: 2005, S. 226–229.31 Fabian Dahlström: Jean Sibelius. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner Werke, Wiesbaden usw. 2003, S. 109.32 Pinder: Form und Inhalt, S. 235–236 (s. Anm. 29).33 James Hepokoski: Finlandia Awakens, in: The Cambridge Companion to Sibelius, hrsg. von Daniel M. Grimley. Cambridge: 2004, S. 81-94.34 Ebd., S. 87.35 S. ebd, S. 90-94.