166 Dietrich Helms der vierten Wiederholung dieses Fünftonmotivs fällt es in Takt 99 mit dem Metrum des Viervierteltaktes zusammen. Es entsteht der klangliche Eindruck einer Dampf-lokomotive, die langsam aber kraftvoll stampfend Fahrt aufnimmt. Semantik ent -steht in der Interpretation Hepokoskis allerdings weniger durch kleine Zeichen, bzw. » Enklaven « , sondern eher aus der Entwicklung der Form. Der in sich stimmigen detaillierten Interpretation von Hepokoski sei hier nichts weiter hinzugefügt. Spannend zu sehen ist jedoch, wie sich mit dem Kontext die Se-mantik eines Stücks verändert. Ein Jahr nach der Uraufführung hatte Baron Axel Carpelan Sibelius beauftragt, eine Ouvertüre für ein Konzertprogramm zu schrei-ben, das das Philharmonische Orchester auf einer Europatournee spielen sollte, die in Aufführungen auf der Weltausstellung in Paris gipfelte. Carpelan schlug – in An-lehnung an Liszts » Hungaria « und Anton Rubinsteins » Rossija « , das ebenfalls auf einer Pariser Weltausstellung aufgeführt worden war, – den Titel » Finlandia « vor.36 Sibelius komponierte kein neues Stück, sondern bearbeitete sein Vorspiel zum sechsten Tableau vivant. Aus dem Weckruf » Finnland erwache « wurde mit dem neuen Titel – als Ouvertüre eines Konzertprogramms, das ausschließlich Stücke fin-nischer Komponisten enthielt und von einem finnischen Orchester im Ausland auf-geführt wurde – ein Symbol der Nation und des Nationalstolzes, das bis heute als zweite Nationalhymne angesehen wird. Es ist bezeichnend, dass Brigitte Pinder in ihrer Darstellung der » Finlandia « sich bemüßigt fühlt, ausdrücklich darauf hinzu-weisen, dass das Tongedicht eben kein Landschaftsbild Finnlands sei, wie der Titel suggeriere.37 (Was jedoch gegenwärtige Hörer kaum davon abhalten wird, finnische Seen und Wälder beim Hören zu assoziieren.)Nur um ein letztes Beispiel dafür zu nennen, wie der Kontext die Semantik ver-ändert: 1943, am Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, publizierte Ernst Tanzberger in der Buchreihe » Musik und Nation « eine kurze Analyse der » Finlandia « , die unter der Grundannahme verfasst wurde, dass alle große Kunst von einer » bestimmten blutsbedingten Volksseele « gestaltet sei.38 Vor dem Hintergrund einer vom Werk Ri-chard Wagners stark geprägten Musikwissenschaft, in einer Diktion, die die Einflüs-se der NS-Propaganda nicht leugnen kann, wird aus der Tondichtung eine » vater-ländische Aufgabe « , die Sibelius seinem Volk in einer Zeit » schenkte « , » in der die russische Herrschaft schwer auf Finnland lastete « .39 Der Hörer wird der Begrifflich-keit seiner Analyse zufolge überrannt von » Ausdruckswellen « . Aus dem Sekundfall am Anfang wird ein wagnerndes » Schmerzmotiv « , das jedoch von » weihevollen Akkorden « abgelöst wird, die zeigen, » daß die finnische Seele dem Leid nicht erle-gen ist; der heilige Schmerz hat sie geläutert und mit Siegeshoffnung erfüllt « .40 Der 36 Pinder: Form und Inhalt, S. 227–228, 236 (s. Anm. 30).37 Ebd., S. 236.38 Ernst Tanzberger: Die symphonischen Dichtungen von Jean Sibelius. Eine inhalts- und formanaly-tische Studie (= Musik und Nation 4), Würzburg 1943, S. 1. Zur Rezeption von Sibelius im Deutsch-land des sogenannten » Dritten Reiches « s. Ruth-Maria Gleißner: Der unpolitische Komponist als Po-litikum. Die Rezeption von Jean Sibelius im NS-Staat, Frankfurt a. M. 2002. 39 Tanzberger: Die symphonischen Dichtungen, S. 29 (s. Anm. 38).40 Ebd.