176 Dietrich Helms stellt, die fehlende Sichtbarkeit des Musikmachens durch akustische Repräsentation von körperlicher Bewegung auszugleichen.52 Im Fall von notierter Musik ist es die Aufgabe des Interpreten, der Komposition das Gefühl, den Körper und die Einstellung zu geben, bzw. diese dem Hörer vorzu-spielen. Im Gegensatz zur Schallaufzeichnung abstrahiert Notenschrift vom Körper des Komponisten, sie ist in der Tat entkörperlichte Musik. Im Bereich der Kunstmu-sik nehmen Hörer immer zwei Urheber wahr: den Komponisten, dessen Leistung als eine kognitive verstanden wird, und den Musiker, der die Musik durch Hand-lungen des » Musikmachens « quasi verkörpert. Es wäre zu diskutieren, ob nicht auch die Merkmale einer Komposition, die wir als Personalstil beschreiben, die Funktion des Verweises auf den Mitteilenden ha-ben. Freilich wäre dann der Begriff des Emotiven zu überdenken, denn es ginge hierbei nicht mehr um den Ausdruck des aktuellen psychischen und physischen Status, sondern um längerfristig wiederkehrende Schemata des Denkens und ggf. sogar der Identität. Eine Aussage, dass die formale Entfaltung in der » Finlandia « von dem Sekundmotiv des Anfangs ausgeht, beschreibt eine poetische Funktion. Doch wie wäre in Jakobsons System die Tatsache einzuordnen, dass diese von ei-nem Kernmotiv ausgehende Kompositionsweise typisch für Sibelius ist und dass dieses formale Merkmal dazu beiträgt, die Herkunft der Mitteilung, beziehungswei-se der Komposition, zu identifizieren? Hier muss Jakobsons Modell sicherlich noch eingehender diskutiert werden. Ich möchte mich in diesem Kontext auf emotive Zeichen im engeren Sinn beschränken. In populärwissenschaftlichen Texten kann man gelegentlich Versuche erkennen, Notentext und emotionale Befindlichkeit des Komponisten zur Zeit der Komposi-tion direkt zueinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn dieser Ansatz in der Mu-sikwissenschaft auf Skepsis stößt, kann eine Beschreibung der Wirkung eines Musikstücks aus der Perspektive der Hörer nicht ignorieren, dass es offenbar Kom-positionen gibt, die für manche ihrer Hörer auf den Komponisten verweisende Zei-chen emotiver Funktion enthalten oder in toto darstellen. Solche Zeichen werden meist entweder in der Textunterlegung gefunden (z. B. in Schuberts » Winterreise « ) oder im Stück als Ganzem (z. B. den Requien von Brahms oder Verdi), selten jedoch bis auf die musikalische Detailebene weiterverfolgt. Der Konsens in der Musikwis-senschaft besagt dagegen, dass Kompositionen zwar in einer konkreten biographi-schen Situation entstehen, die durchaus auch Auswirkungen auf das Musikstück haben kann, dass Noten jedoch keine Ego-Dokumente darstellen, die einen unmit-telbaren Rückschluss auf den Zustand des Autors erlauben. Komponisten haben da-mit eine vergleichbare Position zu ihren Stücken wie die Autoren von Romanen zu ihren Texten. Hierin unterscheiden sie sich deutlich von konzertierenden Musikern, die allein durch ihre körperliche Präsenz Aussagen über ein Ich machen (können) – 52 Vgl. hierzu Mark Katz: Capturing Sound. How Technology has Changed Music, Berkeley usw. 2010, S. 27, sowie S. 94 – 108. Katz stellt die These auf, dass Violinisten seit der Einführung der Schall -aufzeichnung verstärkt Gebrauch vom Vibrato machen.