» Von Interesse ist die Wirkung « 177 auch wenn dieses Ich fiktional wie die Partie einer Oper oder konstruiert wie das Image eines Rockstars ist. Die Wirkung einer Komposition im Konzertsaal, d. h. in der Kommunikation zwischen Musikern und Hörern, die hier im Mittelpunkt der Untersuchung steht, beruht letzten Endes nicht auf dem Ausdruck des wahrhaftigen oder fiktiven Füh-lens beziehungsweise der Einstellung eines Komponisten,53 sondern in den Mög-lichkeiten, die der Komponist für die Musiker schafft, wahrhaftiges oder fiktives Fühlen, Einstellung und Körperlichkeit durch ihre Interpretation darzustellen. Ge-fragt sind musikalische Zeichen, die es den Musikern erlauben, im weitesten Sinne Bewegung darzustellen.54 In der Tat ist die » Finlandia « ein Notentext, der sehr eindeutig zu einer beweg-ten Interpretation einlädt und somit zu einem Hören, das diese Bewegung nachvoll-zieht. Das Sekundmotiv zu Beginn z. B. könnte zwar in der Symbolik der barocken Rhetorik als Ausdruck eines Seufzers gedeutet werden. Genauer betrachtet liegt hier jedoch nicht nur ein kleiner Sekundschritt abwärts in der Oberstimme vor, son-dern ein Quartsextakkord in den tiefen Blechbläsern, der über die Dauer einer gan-zen Note von forte aus crescendiert und abrupt in einen kurzen, forzato zu spielen-den dissonanten Akkord (h-Moll-Septakkord mit erhöhtem Grundton) umschlägt – gefolgt von drei Schlägen Pause. Hier spannt sich etwas langsam an, um gleich dar-auf wieder in sich zusammen zu fallen: ein langes Einatmen mit kurzem Seufzer vielleicht oder ein Versuch, sich zu erheben, der schmerzvoll abgebrochen wird? Dreimal wiederholt sich diese Anstrengung, bis sich daraus eine kurze, langsame Aufwärtsbewegung ergibt, angestrengt fortissimo, kurzatmig und schnell er-schöpft? Dann, nach einer langen Pause des Kraftschöpfens wird das Ganze auf ei-ner größeren Stufe der Intensität wiederholt (T. 10–16): eine Terz höher, fortissimo und mit den eindringlicher klingenden Hörnern und Trompeten als führenden Stimmen. Dieses Mal bricht die Anstrengung nicht mehr in einer Pause zusammen – jedenfalls nicht so schnell. Es schließt sich sofort wieder das Sekundmotiv an, ohne Crescendo auf der ersten Note, ein einfaches Statement. Die Musik schleppt sich in gleich langsamen und gleichförmig fortissimo gespielten Akkorden dahin bis sie wieder – forzato – ihre letzten Kräfte zusammennehmen muss, um dann doch in ei-nem langen C-Dur-Akkord zum Stehen zu kommen (T. 22–23). Der gesamte Andante sostenuto-Teil besteht im Grunde aus Versuchen, in Bewe-gung zu kommen, die immer wieder ins Stocken geraten, so z. B. der Aufschwung der Streicher in Takt 30, der sehr schnell wieder in ein sequenzierend abwärts ge-führtes schwerfälliges (sforzato) Wanken übergeht, aus dem sich immer wieder die Celli und schließlich alle Streicher (T. 51) zu erheben versuchen. Im Allegro soste-53 Auch wenn eine anrührende biographische Geschichte als Hintergrund des Hörens die Assoziatio-nen und Imaginationen der Zuhörer sicherlich beflügelt und dazu beiträgt, den an sich nicht-referen-tiellen Zeichen der Instrumentalmusik Bedeutung zu verleihen. 54 Abgesehen von den im Folgenden beschriebenen Darstellungen von Körperlichkeit möchte ich auch vorschlagen, virtuose Passagen als emotiv zu verstehen, denn sie erlauben es den Musikern, ihre kör -perliche » Fitness « , ihre handwerklichen Fähigkeiten darzustellen – meist mit besonders mitreißender Wirkung.