178 Dietrich Helms nuto setzt nach zweimaligem Alarm- oder Weckruf durch die Blechbläser (T. 74, 76) und einer längeren Besinnungspause wieder das Motiv vom Anfang an – stark be-schleunigt und deutlich zielstrebiger, vorangetrieben durch den Ruf der Bläser und eine aufwärts wirbelnde, rasende Bewegung der Streicher. Ohne hier weiter auf die Details eingehen zu wollen, setzt sich dieses Prinzip eines langsam und stockend in Bewegung kommenden Organismus fort, bis ganz am Ende endlich im vollen Or-chester und klar und eindeutig die hymnische Melodie erklingt, die wie der Zweck und das Ende der ganzen Anstrengung wirkt. Ihre emotionale, ja pathetische Funk-tion bekommt sie auch, weil sie durch einen ausgesprochen motorischen, bewegten Abschnitt vorbereitet wird: Nach dem abrupten Abbruch der zweiten Vorstellung der – immer noch nicht vollkommenen, gelegentlich stolpernden – hymnischen Me-lodie, die eine kurze Ruhephase bedeutet hatte, setzen Lokomotivenmotiv und Alarmruf den Satz wieder in Vorwärtsbewegung. Dann treiben vor allem die Strei-cher mit mehreren Anläufen (T. 184–195) die Komposition auf einen Höhepunkt zu, der in Takt 193 noch einmal für drei Takte jäh unterbrochen wird, um dann schnell wieder Fahrt aufzunehmen, schwungvoll fünf Takte (197–201) auf der Stelle zu tre-ten, und schließlich, endlich in der hymnischen Melodie zur Ruhe zu kommen. Interpretationsansätze der » Finlandia « erwachsen kaum aus der referentiellen Funktion, semantische Enklaven sind abgesehen von dem Lokomotivenmotiv kaum zu identifizieren und auch letzteres nimmt nur ein Hörer wahr, der den Kontext der Uraufführung kennt. Auch formale Aspekte bringen den Satz nicht annähernd so zum Sprechen wie die thematische Arbeit einer Symphonie deutscher Tradition. Es ist vielmehr die im Satz repräsentierte Bewegung, die einen idealen Ansatzpunkt für eine Interpretation in Musik liefert. Es sind die in Noten verschlüsselten Bewe-gungen eines fiktiven Körpers, die zwar vom Komponisten vorgegeben, aber vom Orchester wie eine Rolle in einem Drama gespielt, interpretiert, mit Leben erfüllt werden, Bewegungen, die die Befindlichkeit des fiktiven Körpers mit emotiven Zei-chen darstellen. Diese emotiven Zeichen wirken viel unmittelbarer und mitreißen-der als jede kognitive und letztendlich immer sprachliche, d. h. außermusikalische Auseinandersetzung mit Form oder Bedeutung. Was das alles bedeuten soll, ob es sich bei dem bewegten Körper um das finnische Volk handelt, das erwacht, langsam und unter Mühen in Bewegung kommt und schließlich die Freiheit erlangt, darüber mögen sich Konzertdramaturgen, Musikwissenschaftler und Kritiker streiten. Es ist ihre Aufgabe, den emotiv funktionierenden Zeichen auf einer höheren Ebene Ver-weise auf einen außermusikalischen Kontext, d. h. eine Semantik zuzuschreiben. Für den Genuss des Augenblicks reicht es den Hörern wohl in der Regel, ohne auf die Metaebene wechseln zu müssen, sich von Bewegung bewegen zu lassen.