182 Dietrich Helms Fazit 2: Pragmatik und Notation Der hier vorgeschlagene Ansatz einer pragmatischen Interpretation, die nicht nur nach der poetischen und ggf. referentiellen und metasprachlichen Funktion einer Komposition fragt, d. h. nach Form und Bedeutung, sondern auch emotive, phati-sche und konative Funktionen mit berücksichtigt, eröffnet die große Chance einer integrativen Interpretation von Musik. Er ermöglicht es, Verfahren zu entwickeln, die sowohl für Kunstmusik als auch für populäre Musik anwendbar sind – ohne Unterschiede zu nivellieren. Ganz im Gegenteil werden hierdurch die Differenzen beschreibbar und Übergänge sichtbar, so dass sie nicht mehr als Geschmacksurteil formuliert werden müssen. Die sichtbar werdenden Grenzen werden allerdings nicht mehr zwischen Kunstmusik und populärer Musik verlaufen, sondern zwi-schen Musikstücken, die besonders deutlich eine poetische und anderen die eher eine phatische oder emotive Funktion erfüllen. Eine Hierarchisierung von hochste-hender Kunst- und trivialer Unterhaltungsmusik im Kontext eines Machtdiskurses ist damit – zumindest aus der Perspektive der Musikwissenschaft – obsolet. Zudem gelingt auch die Integration traditioneller auf den Notentext beschränkter Analyse-verfahren mit Techniken der – methodisch längst noch nicht vollständig entfalte-ten – Performanceanalyse. Sie vereinigt die Position des Lesers und des Hörers in ei-nem Kategoriensystem. Analysen, die auf die Funktion von musikalischer Kommunikation zielen, erin-nern an die Versuche im 17. und 18. Jahrhundert, eine Rhetorik der Musik zu eta -blieren. In der Ausrichtung auf Wirkung statt auf Bedeutung ist dieser Vergleich be-rechtigt. Allerdings wäre der pragmatische Ansatz falsch verstanden, wenn man wie die Theoretiker der Figurenlehre versuchte, Zeichen und Funktion quasi lexi-kalisch festzulegen und eine » langue « der Musik zu etablieren. Die Pragmatik un-tersucht die Beziehung zwischen Zeichen und Nutzern von Zeichen und ersetzt kei-ne Semantik für ein Kommunikationssystem, das nur Regeln der Anordnung von Zeichen, nicht jedoch ihrer Referenz etabliert hat. Dazu ist die Verwendung der Zei-chen im ganz spezifischen Kontext der Nutzer darzustellen. Die Beschreibung der kommunikativen Funktionen einzelner Elemente in Sibe-lius' » Finlandia « hat gezeigt, dass bestimmten Stellen im Stück verschiedene Funk-tionen zugeschrieben werden können. Eine Schlusskadenz z. B. hat eine phatische Funktion. Sie bezeichnet das Ende der Kommunikation. Gleichzeitig soll sie jedoch auch konativ wirken und das Publikum zum Applaudieren bewegen. Eine Kadenz in der Mitte des Satzes dagegen kann eine poetische Funktion haben und Fragen nach der Form des Stücks hervorrufen. Es kommt auf den Zusammenhang an. Verbreitungsmedien wie der Notendruck oder auch die Schallaufzeichnung sind dieses Kontextes nur scheinbar ledig. Für die Pragmatik kann der Notentext keine objektivierte und für alle Zeiten gleiche Aussage eines Komponisten sein. Sie ent-larvt diese Annahme als ebenfalls kontextabhängig, d. h. entstanden aus einer ein-seitigen Fixierung auf das Medium der Notenschrift, und auf das, was sie kommu-nizieren sollte: die kunstvolle Anordnung von Tönen unter Ausblendung der indivi-