Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg Ravel, Fauré und die Dialektik von Konvention und Nuance Thomas Kabisch Maurice Ravel war in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg nicht nur ein bekannter jun-ger Komponist; er war zudem eine zentrale Figur im Pariser Musikleben. Er gehörte zu den Protagonisten der Reformkräfte, die sich um Fauré gruppierten und die mu-sikalische Ausbildung und das Konzertrepertoire nachhaltig veränderten. Dem En-gagement in der neugegründeten Société Musicale Indépendante maß er derartige Bedeutung bei, dass er kompositorische Projekte zeitweilig zurückstellte.1 Zugleich war er als Teilnehmer der Salonkultur dem » bataillon de grandes dames du Paris High Life « verbunden, an ihrer Spitze die Comtesse Greffulhe, Misia Edwards und die Prinzessin Metternich.2 Diese Kreise waren in jede größere Unternehmung mu-sikalischer oder musikpolitischer Natur, von Faurés Übernahme der Leitung des Conservatoire bis zu den Ballets-russes-Aktivitäten des Gabriel Astruc, involviert.3 Nach dem Krieg, seit 1918 und insbesondere seit seinem Umzug nach Montfort l’Amaury im Jahre 1921, wird aus dem Pariser Komponisten der internationale Re-präsentant französischer Musik im Ausland, aus dem Autor von Werken, an denen die Diskussion um Aufgaben, Möglichkeiten und Zukunft der Musik sich kristal-lisiert, ein gefeierter Virtuose. Zwar nimmt Ravel am kulturellen Leben der Haupt-stadt weiterhin teil.4 Aber die aktuellen ästhetischen Auseinandersetzungen finden in seinen Werken keinen geeigneten Gegenstand mehr. » L’Enfant et les sortilèges « stößt, nachdem es in Monte Carlo uraufgeführt worden war, in Paris lediglich auf Befremden. Ravels Bemühen um eine reduzierte Schreibweise, die von Vladimir Jankélévitch zu Recht in die Nähe des Fauréschen Spätwerks gerückt wurde,5 seine Einbeziehung präexistenter Musik und sein Streben nach formaler Präzision sind Missverständnissen ausgesetzt, auf denen, so scheint es, der internationale Ruhm und die Indifferenz der Pariser Zeitgenossen gleichermaßen beruhen.1 Nectoux 1975, Duchesneau 1994 (enthält im Anhang eine Aufstellung sämtlicher Konzertprogramme der SMI bis zum Kriegsausbruch).2 Nectoux 1987, S. 105, Chimènes 2004, Kabisch 2008.3 » Fort de l’appui de Misia Edwards et de la comtesse Greffulhe, Astruc avait été contraint d’engager sa garantie personelle en cas d’insuccès « (Nectoux 1987, S. 106).4 Orenstein 1975, 83f.5 Jankélévitch 1956, 53.