204 Thomas Kabisch Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die These, dass Ravels musika-lische Poetik ihre Voraussetzungen in der Musikkultur der Vorkriegszeit hat. Dieser Bezug wird greifbar und belegbar in der Art und Weise, wie Ravel die Poetik Ga-briel Faurés aufnimmt und modifiziert. In drei Schritten soll die These durchgeführt werden. Zunächst wird auf Grund-lage einer knappen Skizze der Einheit der Pariser Vorkriegs-Moderne (Teil 1) die Auseinandersetzung geführt mit dem Ravel-Bild von Roland-Manuel als demjeni-gen Autor, der in zugespitzter Form die konträre Position vertreten hat: dass Ravel im Grunde seines Herzens und seiner Kunst ein Protagonist der Nachkriegsästhetik sei (Teil 2). Der zweite Schritt besteht aus einem close reading von Ravels Aufsatz über Faurés Lieder. Darin wird Faurés Poetik mit Chabrier in Zusammenhang ge-bracht und so gewissermaßen verallgemeinert (Teil 3). Schließlich werden die so gewonnenen Grundzüge einer musikalischen Poetik Ravels an den » Histoires na-turelles « und den » Chansons madécasses « , je einer bedeutenden Komposition der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit erprobt (Teile 4 bis 6). Beide Werke stehen Faurés Musik in Textwahl, Tonfall und vielen anderen Details denkbar fern. Doch die Faurésche Dialektik von Konvention und Nuance wird von Ravel als Mittel einer realistischen Strategie des Komponierens neu belebt. 1 ›L’Espressivo inexpressif‹: Die Einheit der Pariser Vorkriegs-Moderne Carl Dahlhaus’ primär auf die deutsch-österreichische Musik bezogene Konstruk-tion einer Moderne, die sich, begründet um 1890, seit 1908 in Neue Musik und Klas-sizismus spaltete,6 ist – ohne dass man genötigt wäre, die begleitende These zu übernehmen, dass » die geschichtliche Situation […] ein Entweder-Oder erzwang « 7 – mit Gewinn auf die musikhistorische Konstellation in Paris vor und nach dem Ers-ten Weltkrieg zu übertragen. Die Pariser Lage ist vor 1914 charakterisiert durch einen produktiven Pluralismus ohne Beliebigkeit. Sowohl im Musikleben als auch innerhalb des jeweiligen OEuvre der Komponisten der Pariser Moderne, zu der Stra-winsky, Debussy, Dukas, Roussel, Florent Schmitt, Reynaldo Hahn, Fauré, Satie und Ravel gleicherweise zählen, sind Tendenzen, die nach dem Krieg auseinander- oder gar gegeneinandertreten, integriert. Unterschiedliche Werke werden aufgefasst als konkurrierende Antworten auf eine gemeinsame Problemstellung, auf eine Bestim-mung des Musikalischen, die sich auszeichnet durch Nähe zum realen Klang und zum realen Publikum und durch Distanz zum Ideal des tönenden Diskurses und der » expressionistischen Furie « .8 Symptome der Einheit der Pariser Vorkriegs-Moderne sind in Organisationsfor-men des Musiklebens, in Hörweisen und in ästhetischen Debatten zu finden. Die 6 Dahlhaus 1980, S. 279 passim.7 Carl Dahlhaus 1980, S. 282.8 » furie expressioniste « (Jankélévitch 1961, S. 64).