Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 205 Grenzen zwischen großer Kultur und Avantgarde sind durchlässig, die Segmentie-rung des Musiklebens ist in Paris (anders als etwa in Wien)9 partiell aufgehoben. So können traditionelle und avantgardistische Werke gegeneinander gehört werden, und das Verschiedenartige gewinnt durch die Möglichkeit des ›Gegeneinander-Hörens‹ an Bestimmtheit. Selbst dort, wo ästhetisch gestritten und polarisiert wird, ist ein gemeinsamer Rahmen wirksam.Das Spektrum der Organisationsformen des Musiklebens reicht von avantgardis-tischen Experimenten wie Ravels » projet mirifique d’un concert scandaleux « , das Schönbergs » Pierrot lunaire « , Strawinskys » Mélodies japonaises « und Ravels » Poèmes de Stéphane Mallarmé « zusammenbringen sollte 10 und nicht auf ungeteilte Zustim-mung eines größeren Publikums rechnete, bis zu kulturellen Großunternehmungen, wie sie Gabriel Astruc,11 als musikalische und gesellschaftliche Ereignisse zugleich, schon vor der Errichtung des Théâtre des Champs-Elysées mit Erfolg organisierte. All diese Organisationsformen sind durch die Identität wichtiger Personen und durch das institutionelle Scharnier des Salons miteinander verbunden.12 So kommt es, dass Strawinskys » Sacre du Printemps « und Faurés Oper » Pénélope « – für heuti-ge Hörer durch Stoffwahl wie musikalische Faktur als Werke des 19. Jahrhunderts bzw. der Avantgarde des 20. Jahrhunderts verschiedenen Welten angehörend – bei-de in derselben Saison auf dem Programm des Théâtre des Champs-Elysées stehen. Sie können in Vergleich gebracht werden derart, dass man in ihnen je unterschiedli-che Wege erkennt, auf denen die zeitgenössische Musik fortschreiten kann. Léon Vallas sieht in » Sacre « die » aktuelle Entwicklung zu immer größerer Kompliziert-heit der rhythmischen, polyphonen und instrumentalen Faktur « repräsentiert,13 wo-hingegen die » sehr schlichte Partitur der Pénélope « » im Zauberwald der Musik einen neuen Weg öffnet « .14 Sicher, Vallas ist » Debussyst « und liebt deshalb Zwi-schentöne mehr als Drastik – ohne dass ihn diese Prägung übrigens taub machte für die Schönheiten der Musik Strawinskys;15 aber seine Erwartung, dass die Musik ihre angemessene Gestalt eher in einer neuen » Einfachheit « finden werde als in » fortgesetzter Übertreibung « ,16 kann angesichts der Entwicklung im Paris der Nachkriegszeit kaum als Meinungsäußerung eines Reaktionärs abgetan, muss viel-9 Vgl. Timms 1993.10 Brief Ravels an Mme Alfred Casella vom 2. April 1913, in: Chalupt 1956, S. 97. Das Konzert fand am 14. Januar 1914 in modifizierter Form statt. Anstelle der Schönbergschen Komposition wurden die – vorzüglichen – » Quatre Poèmes hindous « von Maurice Delage gespielt. 11 Über Astruc vgl. Nectoux 1987, S. 104ff., Chimènes 2004, S. 678–683 u. a. sowie Astrucs Erinnerungen (Astruc 1987).12 Zur Bedeutung der Salons und den Auswirkungen der Salonkultur auf die Musik vgl. Kabisch 2008.13 » évolution actuelle vers une complication grandissante, complication à la fois rythmique, poly-phonique et instrumentale « (Léon Vallas, Le Sacre du Printemps, in: Revue française de musique, juin-juillet 1913, wieder abgedruckt in: Lesure 1980, S. 29).14 » la très simple partition de ›Pénélope‹« , » qui semble ouvrir dans la forêt enchantée de la musique une voie nouvelle « (Vallas, in: Lesure 1980, S. 30).15 Er spricht von der Musik des » Sacre « als » très irritante, mais séduisante quand-même « (Vallas, in: Le-sure 1980, S. 30).16 » simplicité « , » exagération continue « (Vallas, in: Lesure 1980, S. 30).