206 Thomas Kabisch mehr als Äußerung einer bestimmten Differenz innerhalb einer die Kontrahenten verbindenden Suche nach zeitgenössischen Ausdrucksformen gedeutet werden.Mehr als symbolische Qualität kommt in diesem Zusammenhang dem oft er-wähnten Programm des Eröffnungskonzerts der Société Musicale Indépendante vom 20. April 1910 zu. Debussys Klavierstück » D’un cahier d’esquisses « , Faurés Zy-klus » Chanson d’Ève « und Ravels Zyklus für Klavier zu vier Händen » Ma mère l’Oye « zeigen verschiedene Aspekte der aktuellen französischen Musik und zwar als Zusammenhang. Jedes der drei Werke würde ohne die Anwesenheit der anderen entscheidende Einbußen an Bestimmtheit erleiden. Sie sind sich wechselseitig Wi-derpart dergestalt, dass Ravels kalkulierte simplicité ohne die Komplexität Faurés, die Expressivität und Nüchternheit vereint, und ohne das ganz auf das Materiale gerichtete Stück Debussys eine Dimension verliert. Löst man die Werke aus dem ge-meinsamen Horizont, der in der Programmzusammenstellung sichtbar ist, so wird aus Ravel der Vertreter des métier und der fein ausgehörten, ironisch-schamhaften Miniatur, aus Fauré der kultivierte, verbindliche Repräsentant einer mehr literarisch als musikalisch bestimmten Salonkultur und aus Debussy der bedingungslose Avantgardist. Genau dies ist in der Rezeption Ravels, Faurés und Debussys im Lau-fe des 20. Jahrhunderts geschehen. Die Aufgabe der Musikwissenschaft liegt darin, den gemeinsamen ästhetischen Horizont der Vorkriegsmoderne zu explizieren und für die Wahrnehmung dieser Musik fruchtbar zu machen.17 Selbst dort, wo polarisiert und ästhetisches Neuland betreten wird, bleibt der Be-zug auf die Einheit der Vorkriegsmoderne erhalten. Jacques Rivières Aufsatz über » Le Sacre du printemps « ist ein antisymbolistisches Manifest, das sich passagenwei-se – etwa in der Gegenüberstellung von » Körper « und » Bewegung « 18 – wie eine Vorwegnahme von Positionen liest, die Jahre später Antonin Artaud vertreten hat. Doch der Text steht auch in Verbindung mit anderen, gleichgerichteten zeitgenössi-schen Tendenzen, musikalische Expressivität antisubjektivistisch, gleichsam ›objek-tiv‹ zu begründen und expressionistische Emphase wie apriorische Form gleicher-maßen in Frage zu stellen.19 17 Analysen dienen dabei dem Nachweis, dass die Verbindung von Texten und Kontexten funktioniert und wesentliche Teile der Komposition erfasst. Sie sind » Probe « auf den Zusammenhang, nicht Ziel der theoretischen Anstrengungen.18 Jacques Rivière: Le Sacre du Printemps, in: Nouvelle Revue Française, November 1913, repr. in: Lesure 1980, S. 38–48.19 Schon die Tatsache, dass Debussy in einem früheren Text als Repräsentant eines objektiven Musik -ideals herausgestellt, im » Sacre « -Aufsatz jedoch im Namen derselben Objektivität zum Gegenstand der Kritik wird, zeigt die Komplexität einer Situation, die nicht durch scharfe Grenzen zwischen kon-kurrierenden Gruppen gekennzeichnet ist, sondern durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ten -denzen innerhalb der Poetik einzelner Komponisten. Rivière spricht im Zusammenhang einer Kritik an Ravel, dem er vorwirft, ein Impressionist zu sein (» avec toutes les vertus et tous les défauts qu’il comporte « ), im Gegenzug von » cette cristalline netteté qui fait l’orchestre de Debussy « : » Je me rap-pelle dans ›La Mer‹ certains écroulements de vagues dont le fracas n’empêchait pas de tinter la chute délicate de chaque goutte « (Rivière, » La Rhapsodie Espagnole de Ravel « , in: Rivière 1911,S. 153 f.). In Rivières Aufsatz über » Sacre « (vgl. Anm. 18), muss Debussy als Haupt des Impressionis-mus herhalten, gegen den sich die andere, neue Art von Musik des » Sacre « abhebt. » La grande nou-veauté du ›Sacre du Printemps‹, c’est le renoncement à la ›sauce‹. Voici une oeuvre absolument pure