Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 207 Charakteristisch für den Pariser Antisubjektivismus und Antiexpressionismus ist die Anekdote, Fauré habe auf die Frage, wo ihm denn das Thema des Sechsten Noc-turne eingefallen sei, geantwortet: » im Tunnel des Simplon « . Auch der Impressio-nismus mit seiner neuen Art von Tonmalerei ist eine Weise, aufzuhören, von sich selbst zu sprechen, Musik nicht länger als Sich-Aussprechen eines Subjekts zu kon-zipieren.20 Durch Rivières Kritik am symbolistischen Prinzip der » allusion « 21 gewinnt der musikalische Objektivismus an Schärfe, insofern Klänge deutlicher noch in ihrer Ei-genqualität und nicht als Zeichen behandelt werden.22 Entsprechende Schärfungen finden sich bei Ravel, wenn man etwa an Textwahl und Textbehandlung der » Hi-stoires naturelles « denkt oder an Libretto und Tonfall von » L’Heure espagnole « . Auch Debussys » Jeux « – eine Komposition, die wie » Sacre « teilhat am Prinzip Bal -lett – erfüllt wohl Rivières Forderung nach Direktheit des Ausdrucks. Fauré hinge-gen komponiert nicht nur zwei seiner bedeutendsten Liedzyklen dieser Jahre, » La Chanson d’Eve « (1910) und » Le Jardin clos « (1914), auf Texte des belgischen Symbo-listen Charles van Lerberghe. Er schreibt der Musik auch die Aufgabe zu, » uns so weit wie möglich über das zu erheben, was ist « .23 So erscheint der objektivistische Anspruch bei Fauré, weil er ihn mit symbolistischen Tendenzen verbindet, gemil-dert. Doch geht es gerade um die Vielfalt möglicher Abstufungen und Zwischensta-dien, um die Mobilität und freie Kombinierbarkeit der leitenden ästhetischen Ideen; denn darin unterscheidet sich die Vorkriegsmoderne vom Lagerdenken der 1920er Jahre.Ihren Theoretiker hat die Pariser Vorkriegs-Moderne Jahrzehnte später in Vladi-mir Jankélévitch gefunden. Er hat ihre » Einheit « sichtbar gemacht, die ein Reper-toire von Positionen und Verfahren umfasst, das unterschiedliche Ausdifferenzie-rungen und auch extreme Pointierung zulässt. Von Déodat de Séveracs » Les Baigneuses au soleil « zu Erik Saties » Socrate « führt keine stilistische, substantielle Gemeinsamkeit, sondern eine gemeinsame Aufgabenstellung. Diese problemge-schichtliche Einheit der Pariser Vorkriegsmoderne hat Jankélévitch auf den Begriff des » Espressivo inexpressif « gebracht.[…] Ce n’est pas une ›oeuvre d’art‹, avec tous les petits tripotages habituels. Rien d’estompé, rien de diminué par les ombres; point de voiles ni d’adoucissements poétiques; aucune trace d’atmosphère. [...] Le ›Sacre du Printemps‹ est le premier chef-d’oeuvre que nous puissions opposer à ceux de l’impressionisme « (Rivière in: Lesure 1980, S. 38).20 Jankélévitch 1961, S. 42f.21 Vgl. Verlaine: L’Art poétique, in: Jadis et naguère; Rivière, in: Lesure 1980.22 » Le Sacre du Printemps « sei, so sagt Rivière, ein » ballet sociologique « und » ballet biologique « . Die Kategorien des Subjekts und des Individuums seien überschritten, außer Kraft gesetzt: » non pas seulement la danse de l’homme le plus primitif; c’est encore la danse avant l’homme « (Lesure 1980,S. 47).23 Zitiert nach Jost 2001, S. 815.