208 Thomas Kabisch Die Dialektik des » Espressivo inexpressif « 24 beruht auf der Kritik musikalischer » grandiloquence « , setzt die Organisation realen Klangs an die Stelle diskursiver Strategien und zielt auf eine Art von Expressivität, die indirekt entsteht, nicht direkt hergestellt wird.25 Musik kann und soll weder Ideen noch Gefühle ausdrücken.26 Gegen » die expressionistische Furie « 27 steht ein » Objektivismus « ,28 der sich als Im-pressionismus oder als » Suche nach dem Ausdruckslosen « 29 realisieren kann. Rhe-torische Gesten und der falsche Schein des Diskurses werden gemieden. Komponis-ten und Zuhörer stellen sich der Vieldeutigkeit und der Zeitlichkeit der Musik. Denn Sinn entsteht in der Musik, wie im Leben, stets nur » im nachhinein « .30 Ihre Ambiguität sorgt, wie im Fall der Seele und der Freiheit,31 für » unzählige Möglich-keiten der Interpretation « ,32 die sich wechselseitig durchdringen. Musik, » immer undeutlich und irreführend « , sofern man sie als Sprache nimmt,33 ist » grosso modo expressiv « ,34 gewinnt » ihre spezifische Bedeutung « ,35 wenn Vieldeutigkeit und Flüchtigkeit nicht gefürchtet, sondern als Vorzüge kultiviert werden.In knappster Form entwickelt Jankélévitch seine Vorstellung von » musique française « in den (stilisierten) Gesprächen, die er mit Béatrice Berlowitz geführt hat. Darin wird das » Espressivo inexpressif « als antidiskursiv, wird französische Musik durch ihren Gegensatz zur deutsch-österreichischen bestimmt. Der Text lässt sich zugleich als Skizze der Einheit der Pariser Vorkriegs-Moderne lesen.Deutsche Musik ist zu sehr vom Nichts beherrscht, zu sehr durchdrungen vom Streben nach dem Großartigen; zu hartnäckig kehrt sie dem » geheimnisvollen [mystérieuse] Zusammenspiel des Dufts der Blumen « den Rücken, den Win-dungen der Luft und der Bewegung der Blätter. Ich mag, wenn Musik nicht taub ist für den Gesang des Windes in der Ebene, nicht unempfindlich für die Düfte der Nacht. » Das köstliche Spiel einer unnützen Beschäftigung « ,– diese Worte von Henri de Régnier, die Ravel seinen » Valses nobles et senti-mentales « vorangestellt hat, könnten als Überschrift für die gesamte französi-sche Musik dienen. […] diese Musik vergisst nie, dass sie Musik ist; niemals 24 Jankélévitch 1961, S. 57ff.25 Jankélévitch 1978, S. 247–313.26 Jankélévitch 1961, S. 25–41.27 » la furie expressioniste « (Jankélévitch 1961, S. 64).28 Jankélévitch 1961, S. 47.29 » recherche de l’inexpressif « (Jankélévitch 1961, S. 42f.).30 » après coup « (Jankélévitch 1961, S. 79f. mit expliziter Bezugnahme auf Schellings Begriff der » Erin-nerung « . Vgl. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie, 1827, zitiert in Bormann 1972,S. 640). Natürlich steht auch Bergsons Begriff der » mémoire « im Hintergrund von Jankélévitchs Ge-dankengang.31 Jankélévitch 1961, S. 77.32 » innombrables possibilités d’interprétation « (Jankélévitch 1961, S. 95).33 » toujours équivoque et décevante « (Jankélévitch 1961, S. 77).34 Jankélévitch 1961, S. 77.35 » sa signification propre « (Jankélévitch 1961, S. 80).