Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 209 verzichtet sie darauf, das Organ zu bezaubern, das an beiden Seiten des Kopf -es sitzt und Ohr genannt wird […].36 Ausgeführt hat Jankélévitch seine Theorie der Musik in Studien, die teils mehr ma-terial, teils stärker philosophisch orientiert sind und sich sowohl in Details der be-grifflichen Konstruktion wie im Gegenstand und ihrem Bezug zur Geschichte unter-scheiden. Im wesentlichen handelt es sich um drei Versionen, die in dem Buch » Liszt et la rhapsodie. Essai sur la virtuosité « , in den Monographien über Fauré, De-bussy, Ravel und anderen Darstellungen zu französischen Komponisten der Jahr-hundertwende und schließlich in » La musique et l’ineffable « zu finden sind.37 Am schlüssigsten und deutlichsten präsentiert sich Jankélévitchs Theorie in » Liszt et la rhapsodie. Essai sur la virtuosité « . Das Werk Franz Liszts liefert den pri-vilegierten historischen Punkt, an dem die innere Dialektik des Musikalischen am stärksten polarisiert ist und am sichtbarsten nach außen tritt. Liszt markiert den high noon der Geschichte der Virtuosität, die als nicht-diskursiver Schatten die Ge-schichte der musikalischen Rationalität kontrapunktierend begleitet. In Janké-lévitchs philosophischer Analyse dieser historischen Konstellation kommen sowohl immanente, kompositionstechnische Aspekte als auch das Verhältnis von Virtuosen und Zuhörern zur Sprache.38 Der emphatische Begriff einer musique française als Projekt einer nicht-diskursi-ven Musik, der Jankélévitch als Grundlage dient, um in seinen Monographien über Fauré, Debussy, Satie, Ravel u. a. die Einheit und innere Vielfalt der Pariser Vor-kriegsavantgarde sichtbar zu machen, ist ein Produkt, eine Ableitung aus seiner Analyse der Virtuosität. Die beiden Begriffe sind strukturanalog konzipiert. Mu-sique française ist ihrem deutschen Widerpart des tönenden Diskurses auf dieselbe Weise innerlich verbunden wie Liszts Virtuosität dem Anspruch, den die Musik durch die vielzitierten späten Streichquartette Ludwig van Beethovens erreicht hat. In der historischen Untersuchung der Musik der Jahrhundertwende bedient sich Jankélévitchs Theorie des Musikalischen der Schärfungen, die sie in der historischen Untersuchung der Virtuosität erworben hat. Auch der Aspekt der Modernität, der die vergleichende Betrachtung französischer Komponisten leitet, spielt bereits in Jankélévitchs Analyse der Virtuosität Liszts eine entscheidende Rolle.39 Der Begriff der musique française bei Jankélévitch ist also keine philosophische Urzeugung. Er 36 » La musique allemande est trop subjuguée par le néant, trop habitée par la volonté du grandiose; elle tourne trop ostinément le dos à la ›collaboration mystérieuse du parfum des fleurs‹, des courbes de l’air et du mouvement des feuilles. J’aime que la musique ne soit pas sourde à la chanson du vent dans la plaine, ni insensible aux parfums de la nuit. ›Le délicieux plaisir d’une occupation inutile‹, – ces mots d’Henri de Régnier que Ravel a inscrits en tête des ›Valses nobles et sentimentales‹ pour -raient servir d’epigraphe à toute la musique française « (Jankélévitch 1978, S. 302 f.). Die Passage ent -hält Anspielungen auf Werk-Titel von Debussy, Fauré u. a.37 Jankélévitch a) 1979; b) 1956, 1976, 1974; c) 1961.38 Jankélévitch 1979. Vgl. auch Dahlhaus 1980.39 Kabisch 2014a.