Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 211 Erörterung der musikalischen Rationalität in der Entwicklung der gesamten euro-päischen Mehrstimmigkeit.50 Andererseits wären die Grenzen des speziellen Kon-zepts der musique française innerhalb einer übergreifenden Geschichte der Relation diskursiver und nicht-diskursiver Musik zu bestimmen. Zu fragen wäre, ob die Mu-sik, die in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg entsteht, Bestandteil oder quasi-natürliche Fortsetzung der Vorkriegs-Poetiken ist, oder ob die » era of pastiche « 51 mit wichtigen Voraussetzungen der Vorkriegsavantgarde bricht. Im vorliegenden Aufsatz wird für die zweite Deutung geworben, die impliziert, dass die Vorkriegs-Konstellation Fauré-Chabrier-Satie-Debussy-Ravel für die Geschichte der französi-schen Musik einen ähnlichen καιρός darstellt wie Liszt es in der Geschichte der Vir-tuosität war. Busoni ist kein organischer Nachfolger Franz Liszts und Messiaen kein organischer Nachfolger Claude Debussys.52 Erst vor dem Hintergrund dieser Veränderung ist die charakteristische Beson-derheit zu erkennen, die Ravels Musik auszeichnet und seiner produktiven Fauré-Rezeption die Pointe gibt.2 Roland-Manuel vs. Ravel Roland-Manuel ist Beteiligter. Er war nicht nur » dabei « , ist nicht nur Schüler Ravels, Mitglied der » Schule von Montfort « , sondern hat das Ravel-Bild im Sinne und Inter-esse zeitgenössischer musikpolitischer Auseinandersetzungen aktiv gestaltet. Das ist sein unbestrittenes Recht als Zeitgenosse, der in die Auseinandersetzungen um die weitere Entwicklung der Musik, u. a. mittels eines bestimmten Ravel-Bildes ein-greifen will; eine günstige Voraussetzung für historisches Verstehen ist ein derart ausgeprägtes Eigeninteresse jedoch nicht. Roland-Manuel betont all diejenigen Aspekte an Ravels Musik, die den 1920er Jahren als modern gelten. Er deutet Ravels Poetik als Vorwegnahme von Überzeu-gungen der Six, empfiehlt gar, Ravel als Stammvater der Six zu betrachten.53 Vor al-lem aber konstruiert Roland-Manuel aus situationsbezogenen und pragmatischen Einlassungen Ravels eine philosophische Ästhetik. Berühmt geworden ist insbeson-dere seine These, Ravel habe eine » Ästhetik der Verstellung « vertreten und prakti-ziert.54 Missverhältnis womöglich Vorschub geleistet. Vgl. Jankélévitch 2003, Abbate 2004, Airey 2006, Berger 2005.50 Vgl. Kabisch 2014b.51 Lambert 1937, S. 63.52 Vgl. Kabisch 2010 und Kabisch 2013.53 Roland-Manuel 1925b.54 Roland-Manuel 1925a. Jankélévitch hat die » esthétique de l’imposture « in seinem Ravel-Buch von 1939 aufgenommen und kritisiert, indem er Ravels » Masken « , » Fälschungen « etc. als Teile einer Neu-konzeption des Appassionato bestimmte, als Mittel zur Erneuerung von Ausdruck, nicht zur Vermei-dung (Jankélévitch 1956, S. 111). Die deutsche Fassung (Jankélévitch 1958, S. 91) unterschlägt einen entscheidenden Hinweis auf ein Propos von Alain, vom 28.2.1929, überschrieben » La Pythie « (Alain 1956). Im Übrigen ist der Beginn dieses Kapitels in der deutschen Fassung stark gekürzt.