212 Thomas Kabisch Auf den Komponisten selbst kann Roland-Manuel sich dabei nicht berufen. Wo Ravel das Wortfeld » sincérité « , » imposture « , » insensibilité « , » spontanéité « ins Spiel bringt (vor allem in dem von Roland-Manuel für nicht-authentisch erklärten Text » Mes Souvenirs d’un enfant paresseux « ), bezieht er sich erstens nicht auf Les Six oder Cocteau, sondern auf den 1884 erschienenen Roman » A Rebours « von Huys-mans. Zweitens versucht er, wenn er vom » bewussten Künstler « spricht und von Kunst als höchster Form der » Verstellung « , nicht, sein Komponieren zu legitimieren oder zu beschreiben. Vielmehr will er seine Arbeit von Einschränkungen freihalten, die aus dem zeitgenössischen ästhetischen Diskurs erwachsen, will sie gegen Forde-rungen nach Einheit der Person und des Stils eines Künstlers schützen.55 Die Ver-pflichtung auf den Mythos der Künstler-Person ist dem künstlerischen Schaffen, wie Ravel es versteht, hinderlich. » Verstellung « ist der Gegenbegriff, der ihm Bewe-gungsspielraum verschafft, gegen die ästhetischen praeceptores Franciae.Ravel sucht sich von der Zumutung einer Unmittelbarkeit genialen Schaffens freizumachen, um das zu tun, was menschenmöglich ist: zu arbeiten. Er argumen-tiert ganz im Sinne des Philosophen Alain, der sich in einem Propos vom 28. Febru-ar 1929 mit jenen auseinandersetzt, die » kurzerhand alles, woran gearbeitet worden ist, für Lüge « erklären, weil ihm die Unmittelbarkeit abgeht.56 Man mag von Künst-lichkeit sprechen, wenn » Gedanken fixiert und geordnet « werden, wenn Kunst ge-macht wird mit » Disziplin und Kritik, [nicht] aus der ersten Regung heraus « . Aber von Lüge und Verstellung zu sprechen, wie Roland-Manuel es tut, ist ein bloßes Wortspiel. Und so wird bei Roland-Manuel aus Ravels Nachdenken über die Bedin-gungen künstlerischer Praxis eine philosophisch begründete Ästhetik.Unmittelbar greifbar wird die Rolle, die Roland-Manuel in der Produktion eines Nachkriegs-Ravel-Bildes spielt, an den Quellen selbst. Die Grenzen zwischen Tex-ten, die als von Ravel stammend anzusehen sind, und Texten, die primär Roland-Manuels Überzeugungen zum Ausdruck bringen, sind fließend. Dies ist zunächst dem Umstand geschuldet, dass Ravel Roland-Manuel damit betraute, gesprächs-weise entwickelte Gedanken in schriftliche Form zu bringen, und die so entstande-nen Texte unter seinem, Ravels, Namen erscheinen ließ. Doch hat Roland-Manuel – wohl aus der in dieser Tätigkeit gewachsenen Überzeugung heraus, Ravels Position vollständig und manchmal gar besser als der Meister selbst verstehen und zum Ausdruck bringen zu können – auch manches hinzugefügt. Zusammen mit der Wandlung, die ein Text erfährt, wenn er aus einem ursprünglich praktischen Zu-sammenhang gelöst und, gesondert publiziert, den Charakter eines ästhetischen Manifests annimmt, ist die Zahl und Reichweite der Verschiebungen, die für eine Interpretation der Texte schon insoweit in Anschlag zu bringen sind, erheblich. So wurde die » Esquisse autobiographique « , die 1928 für den vergleichsweise harmlo-sen Gebrauchszweck entstand, als Begleittext für Schallaufnahmen der Firma Aeo-lian zu dienen, erst zehn Jahre später, also nach Ravels Tod, in einer Sondernummer 55 Vgl. etwa Jacques Rivière: De la sincérité envers soi-même, 1912, zitiert bei Caballero 2001, S. 34.56 Alain 1956, La Pythie. Das ist der Text, auf den Jankélévitch verweist, wo er Roland-Manuel kritisiert (vgl. oben Anm. 48).