216 Thomas Kabisch » Ordre « fungiert hier, genau wie in Strawinskys » Poétique musicale « ,73 nicht als Teilmoment des Musikalischen. Es hat, anders als in Alains Konzeption der Musik als » Schrei, der einer Gesetzmäßigkeit unterworfen wird « oder als » regulierter Schrei « , keinen inneren Widerpart.74 » Ordre « bei Roland-Manuel ist nicht gefährdet und braucht nicht immer aufs neue installiert zu werden. Sie gründet nicht in der rationalisierenden Aktivität des Subjekts, sondern ist in der Welt vorhanden und findet in der Musik nur ihren Widerschein.Ravels Musik, in der die rationalisierende Tätigkeit des kompositorischen Sub-jekts sich planmäßig immer neuen und anderen Herausforderungen durch vorbe-lastete Materialien aussetzt, ist unter Roland-Manuels Prämissen nicht zu begreifen. Seine Selektierung des Ravelschen Schaffens, die einseitige Betonung solcher Aspek-te, die im Sinne der zwanziger Jahre als modern gelten, entspringt nicht allein aktu-ellen kulturpolitischen Erwägungen, sondern dem Unvermögen, die Dialektik von Konvention und Nuance, von Klangrealismus und konfigurativer Form zu fassen. Seine Tendenz, Ravels Verwurzelung in der Kultur des Fin de siècle herunterzuspie-len, hat ihren eigentlichen Grund in einem undialektischen Begriff des Musikali-schen, der um das nicht-rationale Moment verkürzt ist und deshalb Ort und Wir-kungsweise strenger Organisation nicht bestimmen kann.3 Ravel über Fauré In seinem Beitrag zur Sondernummer der » Revue musicale « über Fauré spricht Ra-vel, wie Marcel Marnat konstatiert,75 » von sich selbst « . Der Text handelt von den » Paten der Generation 1895 « ,76 mithin von der unmittelbaren Vorgeschichte und den Voraussetzungen der Musik Ravels. Die » Paten « sind Fauré und Chabrier, Erben Gounods und Träger, wie es weiter heißt, des » renouveau musical « um 1880. Dass sie in einem Atemzug genannt wer-den, ist auf den ersten Blick mehr den vielfältigen persönlichen Vorlieben Ravels, unter denen Chabrier bekanntermaßen einen prominenten Platz einnimmt, als tat-sächlichen Gemeinsamkeiten in kompositionstechnischer und ästhetischer Hinsicht zuzuschreiben. Zu weit scheint Faurés Kunst der Kontinuität und subtilen Verände-73 Strawinsky 2000, Vorwort Soumagnac.74 » cri selon la loi « ; » cri regulié « (Alain 1956, 483ff. und Alain 1926, S. 113ff.).75 Marnat 1986, S. 544. Die Sondernummer der » Revue musicale « erschien im Oktober 1922. Ravels Bei -trag ist überschrieben » Les Mélodies de Gabriel Fauré « und von einer Vorbemerkung Roland-Manu-els begleitet, in der es zur Entstehung und zur vorliegenden Form des Beitrags heißt: » En relisant au piano les mélodies de son maître, M. Ravel les a librement commentées devant nous. C’est cette causerie familière qu’on s’est efforcé de relater ici, avec fidélité.« Der Charakter einer » causerie fami-lière « wird in der gedruckten Version in der » Revue musicale « durch eine Gliederung in sieben Ab -schnitte kenntlich. In den von Arbie Orenstein herausgegebenen » Lettres, Écrits et Entretiens « (Ravel 1989) ist diese Gliederung kommentarlos entfallen.76 Ravel 1922, S. 23 bzw. 215.