Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 217 rung 77 von Chabriers Musik der bunten Kontraste und überraschenden Wendungen entfernt zu sein. Doch Ravel führt in seinem Text den Nachweis, dass die Poetiken der beiden Komponisten gemeinsame Voraussetzungen besitzen, und er zeigt, dass man diesen Zusammenhang begreifen muss, um Fauré zu verstehen. Vor allem aber muss die Zusammengehörigkeit von Fauré und Chabrier begreifen, wer Ravel und die Bedeutung verstehen will, die Fauré für Ravel auch zu Beginn der 20er Jahre hat. Einerseits also legt Ravels spezifischer und von eigener kompositorischer Pro-blemstellung gelenkter Blick Grundstrukturen der Musik zwischen 1870 und 1914 frei. Andererseits wird die Ravelsche Poetik und die besondere Rolle, die Fauré dar-in spielt, in vollem Umfang erst einsichtig, wenn man Fauré im historischen Kontext – und das bedeutet: mit Chabrier zusammen – sieht.Außergewöhnliche Auflösungen, Mehrdeutigkeiten, Modulationen in entlege-ne Tonarten, die uns auf unbekannten Wegen zur Haupttonart zurückführen, sind ebenso gefährliche Spiele, die Fauré von Anfang an meisterhaft be-herrscht. Chabrier hat sich ihnen ebenfalls gewidmet, aber jeder hat sie auf sei-ne Art gespielt: der eine mehr mit raffinierter Brutalität, der andere mehr mit aristokratischer Zurückhaltung. Wo Chabrier das Stück mit sich fortreißt, run-det Fauré die Kanten ab, und gelegentlich geht er noch weiter.78 Ravel spricht von harmonischen Prozeduren; durch sie zielt er auf die formkon-stituierende Dialektik von zentrifugalem Material und Streben nach Ausgleich, die Chabrier und Fauré verbindet.*Chabriers » Bourrée fantasque « enthält harmonische Digressionen, wie Ravel sie be-schreibt, an prominenter Stelle und in charakteristischer Verschiedenheit. Im ersten Teil entfernt sich der harmonische Gang rasch, aber durch ein Pseudo-Fugato nach-vollziehbar und begründet, von der Grundtonart c-Moll. Durch eine ruppige neapo-litanische Umdeutung des erreichten Des-Dur (T. 45f.) wird der Ausflug beendet, in eine Kadenz nach C-Dur und in den Rahmen eines regelmäßigen Sechzehntakters zurückgezwungen. Im dritten Teil des Stücks findet sich ein harmonischer Exkurs, in dem die Ver-hältnisse umgekehrt sind. Anstelle des plötzlichen Abbruchs einer allmählichen Ent-fernung vom Ausgangspunkt begegnet hier die unmerkliche, fein ausgestufte 77 Vgl. Carter 1945.78 » Résolutions exceptionelles, équivoques, modulations aux tons éloignés nous ramenant au ton principal par des chemins inconnus, sont autant de jeux périlleux que Fauré pratique dès l’abord en maître. Chabrier s’y est livré parallèlement, mais chacun les a joués à sa façon: celui-ci avec plus de brutalité raffinée, celui-là avec plus de réserve aristocratique. Là où Chabrier emporte le morceau, Fauré arrondit des angles et, parfois, il va plus avant « (Ravel 1922, S. 24 bzw. 216).