Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 219 Die Schilderung der beiden Exkurs-Typen macht deutlich, worin Chabriers Mu-sik ihre Pointe und ihren Reiz hat: nicht in der Spontaneität des Details, für die Cha-brier berühmt oder berüchtigt ist, sondern in einem » Imprévu zweiten Grades « , dem Mirakel einer Integration, die der ihr Eigenleben rücksichtslos entfaltenden Einzelheit formale Funktion abgewinnt resp. hinzufügt, ohne in ihre Gestalt oder ih-ren Verlauf dämpfend einzugreifen. Brechungen und Brüche sind bei Chabrier, scheinbar paradox, ein Mittel formaler Einbindung. Es geht in seiner Musik weder um das Verblüffende der Exkurse an sich, noch um Form, die trotz der Exkurse Be-stand hat, sondern um Form, die aus Exkursen besteht. Die » Bourrée fantasque « gleicht insoweit der » Sérénade interrompue « von Debussy, die nicht eine unterbro-chene Form ist, sondern eine » Form aus Unterbrechungen « .80 Beide Arten von Exkurs halten sowohl an der durchweg quadratischen Syntax wie an der thematischen Grundsubstanz des Stücks fest. Das Ganze der Form bleibt in diesem Sinne stets mit sich identisch, folgt klassischem Reglement und versucht nirgends, sich den Wendungen der Details anzupassen. An die Stelle einer Vermitt-lung von Teil und Ganzem tritt die Inszenierung ihres Konflikts. Der kompositori-sche Eingriff tritt in diesem Verfahren so deutlich zutage wie in jenen Praktiken der musikalischen Moderne nach dem Ersten Weltkrieg, die man als Montage bezeich-net hat; doch das Ziel besteht bei Chabrier in Versöhnung und Ausgleich, in Affir-mation, nicht Verfremdung.Möglich wird die formale Funktion der beiden Exkurse dadurch, dass sie her-ausgehobene Punkte, prominente Positionen innerhalb einer Form darstellen, die vollständig und auf allen Ebenen ihrer Artikulation auf Digression und auf organi-sierter Differenz der Satzdimensionen beruht. nach C-Dur nicht; der Sequenz nach müsste statt des C-Quartsextakkords ja E-Dur (bzw. E7) erschei-nen. Damit bleibt Chabrier zwar in dem vorigen Großterzzirkel, aber ein ›Trugschluss‹ – tonal und distanzial – ist es schon.« 80 Vgl. Kabisch 2000. Die Formulierung stammt von Jankélévitch.