Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 221 In einer dritten Version des Hauptgedankens, beginnend in T. 7, wird die harmoni-sche Dimension in den Vordergrund gerückt und die interne syntaktische Differen-zierung gesteigert. Abweichungen von der Ausgangsgestalt sind durch motivische Ableitung legitimiert. Der Vordersatz (T. 17–20) besteht aus zwei Schichten: einer Verdichtung der originalen melodischen Linie auf den Terzgang des Kopfmotivs (es 1–f 1–es 1–des 1) und seine Sequenz (des 1–es 1–des 1–c 1) sowie einer figurativen Digres-sion in der rechten Hand, die zugleich Variante der Skala aus T. 8 und Diminution des thematischen Doppelschlags ist und die in einer folgenreichen Variante aus Dreiklangsbrechung, Tonrepetition und Quintfall kulminiert (T. 19f.). Digression und Sequenz des Kopfmotivs kommen in der funktionalen Fortschreitung eines Se-kundakkords und seiner Auflösung überein.In der funktionalen Verbindung der Satzkomponenten vollendet sich der Weg, der von der harmonischen Latenz (T. 1) über die bloß äußerliche Zusammenfügung von Melodie und Akkorden (T. 8) führte. Doch im selben Augenblick, da die harmo-nische, syntaktische und motivische Integration maximal ist, ereignet sich – im klei-nen Maßstab – eine Digression, indem die exponierte Quint des Sekundakkords in der Oberstimme in auffälliger (motivischer) Manier abspringt.Der Fugato-Ausflug ist auf diese Weise nicht nur eingelassen in eine Umgebung, deren allgemeines Bewegungsprinzip der Exkurs ist. Er bringt dieses Prinzip, das zunächst eher latent, im Innern und im Kleinen waltet, an die Oberfläche und schafft durch die Entfaltung des Latenten Verschiedenheit innerhalb eines – thema-tisch extrem homogenen – Ablaufs, ohne diese Homogenität in Frage zu stellen. Die Form des ersten Teils der » Bourrée fantasque « ist Resultat des Übergangs von La-tenz in Manifestation, der mit Hilfe von Digressionen erfolgt.Dem Verfahren, Form aus Exkursen zu schaffen, liegt ermöglichend ein Haupt-gedanke zugrunde, der als strukturell-figurativ zu charakterisieren wäre. Das The-ma entsteht aus der zeitlichen Projektion der Figur des Doppelschlags und ihrer Transposition im Tonraum. Der daraus resultierende statische Eindruck wird kon-terkariert durch eine Tonrepetition (Sechzehntel = M.M. 608!), die dem Stück den in der Vortragsanweisung benannten » entrain « gibt. Insofern die » Belebung « des The-mas nicht in melodisch-harmonischen Tonbeziehungen gründet, sondern in seiner satztechnischen, klanglichen Konkretion, finden die Verfahren, die späterer Varian-tenbildung zugrundeliegen, Rückhalt im Bauprinzip des Themas selbst.Die zitierte Passage im dritten Teil der » Bourrée fantasque « ist nicht nur länger, sie holt auch formal weiter aus. In Hinblick auf die Thematik hatte der Schlussteil zuvor den Anfangsteil bereits nahezu vollständig rekapituliert. Der Exkurs dient ei-nerseits dazu, der Wiederherstellung der Grundtonart die nötige » Fallhöhe « zu ver -schaffen; gegenläufig zu dieser schlussbildenden harmonischen Funktion ist er zu-gleich Anstoß für eine ausführliche Reminiszenz des Trios, die mehr als dreißig Tak-te (T. 303–335) umfasst. Der Schlussteil der » Bourrée fantasque « gewinnt so durch die Exkurstechnik eine zusätzliche formale Ebene, nicht bloß einen angehängten Teil. Digression schafft formale Differenzierung.