224 Thomas Kabisch den die Singstimme bringt, wird von der Oberstimme des Klaviersatzes in umge-kehrter Richtung vollzogen (es 2 nach as 2); der Bass bildet die Unterdezime. War bislang die » contour mélodique « der Singstimme Auslöser von Störungen im System der Akkorde, aus denen das Modell besteht, so wird von nun an Lineari -tät, die vom Klaviersatz ausgeht und als strukturell bezeichnet werden kann, zum Medium harmonischer Klärung. Ziel- und Schlusspunkt ist die letzte Zeile der drit-ten Strophe. Dort ist das Modell durch die Gegenbewegung der Außenstimmen (as 1 – es 2 bzw. es – As) von jener harmonischen Zweideutigkeit befreit, die der ur-sprünglichen Fassung anhaftete und den Boden für die Auslenkungen darstellte, die von der Singstimme angestoßen wurden.Die Analogie zu Chabrier, die an » Le Secret « sichtbar wird, betrifft einen Form-prozess, der auf einem System von Störungen und Balancierung beruht derart, dass Ambiguitäten, die dem Ausgangsmaterial anhaften, nach außen gekehrt, latente in-nere Differenzen zur Darstellung und Explosion gebracht werden und so die Ver-söhnung des Materials mit sich selbst vollzogen wird.Diese formale Strategie korrespondiert einer Konzeption von Expressivität, die sich bewusst den Gefährdungen der Emphase und des Sentiments aussetzt, um im Widerstand gegen deren Schwerkraft die Autonomie des Musikalischen zu entfal-ten. In diesem Sinne schreibt Ravel über die » musikalische Linie « in » Clair de lune « op. 46, 2 (1887):Sie geht ihren Weg, ohne sich durch die Wechselfälle der bergamaskischen Ko-mödie ablenken zu lassen. Ihr heiterer, gleichbleibender Gang ist beispielhaft.85 Die melodische Linie, die makellos und an sich frei von Spuren eines dramatischen Konflikts ist, gewinnt ihre Kraft aus dem Widerstand, den sie den » verschiedenen Bildern, die das Gedicht nahelegt « ,86 entgegensetzt. Nicht nachzugeben, wird zur Quelle von Ausdruck nur dadurch, dass widerstreitende Kräfte auf den Plan geru-fen werden. Das führt auch bei Fauré bisweilen zu Extremen.» Au cimetière « repräsentiert einen außergewöhnlichen Charakter. Hier zeigt sich ein pathetischer Gefühlsausdruck, der bei Fauré sehr selten ist. Sehen Sie, wie der tragische Einfall des Musikers sich über das kleine dichterische, tat-sächlich schlichte Spiel erhebt, auf das der als Anregung dienende Text sich beschränkt. Man könnte » Au cimetière « mit » Ich grolle nicht « vergleichen, wo Schumann in ähnlicher Weise die Grenzen seines intimen Lyrismus über-schreitet. Obwohl der Kontrast, den der Dichter hier will, größer ist als in dem Schumannschen Lied, gibt die Linie dieses düsteren und bewegten Stücks nicht einen Augenblick nach.87 85 » Elle va son chemin sans se laisser distraire au passage par les péripéties de la comédie bergamasque. Sa continuité sereine est exemplaire « (Ravel 1989, S. 324).86 » différentes images suggérées par le poème « (Ravel 1989, S. 323).87 » ›Au cimetière‹ présente un caractère exceptionnel. Un sentiment pathétique s’y fait jour, qui est extrêmement rare chez Fauré. Voyez comme l’inspiration tragique du musicien s’élève bien au-dessus du petit jeu poétique, à la vérité facile, auquel se borne le texte inspirateur. On pourrait comparer ›Au