Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 227 Notenbeispiel 5: Fauré, » Au cimetière « , T. 31–40 und 52–59 Satz: Folker Froebe Der von Nectoux als » grandiloquence « gebrandmarkte Gestus 90 haftet dem Mittel-teil für sich genommen ohne Zweifel an. Doch dass er sich Fauré durch Richepins Neigung zu Sentiment und Pathos sozusagen wider Willen aufgedrängt habe, ist wenig plausibel angesichts der Tatsache, dass der Komponist die meisten der Ange-bote, die ihm das Gedicht in diese Richtung macht, ausschlägt und lediglich den Kontrast » heureux « – » malchanceux « aufnimmt und musikalisch ausführt. Die » grandiloquence « ist Teil der musikalischen Konzeption. Sie ist als Typus direkter Expressivität dem ersten Teil entgegengesetzt und zugleich aus der dort herrschen-den » sérénité « abgeleitet; in dem Maße, wie sie einen » subjektiven « Ton anschlägt und zu » sprechen « beginnt, verfällt sie in Stereotypen und entfernt sich von den Möglichkeiten individueller Formung.Wenn der Schlussteil einsetzt, hat die Charakter-Digression, die Auslenkung, die die allgemeine Tonlage im Mittelabschnitt erfahren hat, eine doppelte Wirkung. Ers-tens tritt gegen die vorangegangene Drastik des unmittelbar sprechenden Subjekts die subtile Subjektivität eines musikalisch differenzierten Satzes im Schlussteil her-vor. Nach den aufgeladenen Einzeltönen des » declamato « , die unter dem Druck des Sich-Äußerns standen, wirkt der Wiedereinsatz der kantablen Linie – die nichts » sa-gen « will – befreiend. Zweitens können die Momente unmittelbaren Ausdrucks, die im Tonsatz der Rahmenteile enthalten und » aufgehoben « sind, mit all ihrer Eigen-dynamik vom Hörer erfahren werden, nachdem sie im Mittelteil freigesetzt, aus dem Zustand der Latenz herausgetreten und manifest geworden waren. Expressiv ist der Schlussteil nicht deshalb, weil er differenzierter ist, sondern weil die differen-zierte Struktur Momente unmittelbarer Expressivität – man denke nur an die heikle VI-V-I-Wendung bei » il dort d’un bon sommeil vermeil « (T. 11f./T. 66f.) – im Zaum hält und rein-musikalisch entfaltet, die in der » partie centrale « ungeschminkt und roh an die Oberfläche kamen.90 » Grandiloquence « ist für Jankélévitch, dessen Bücher Nectoux gut kennt, ein Merkmal der das Wesen des Musikalischen verfehlenden deutschen Musik (Jankélévitch 1978, S. 302f., vgl. Fußnote 36). Dazu auch Kabisch 2008 und 2014b.