228 Thomas Kabisch Die Pointe des Liedes läge demnach im veränderten Hören der, wie Jankélévitch sagt, » Elegie ewiger Ruhe « nach dem » heftigeren Zwischenspiel, das sozusagen das zugehörige ›Dies irae‹ darstellt « .91 Faurés Vertonung macht den Zusammenhang dieser beiden Aspekte des Todes erfahrbar, einen Zusammenhang, der bei Richepin mehr beschrieben als dichterisch realisiert ist und unter der Fülle von Detailschilde-rungen zu ersticken droht.Das Thema des Gedichts ist ganz traditionell, entstammt dem Repertoire der li-terarischen Romantik. » Jean Richepin reicht hier Chateaubriand und Gray die Hand « .92 Fauré nimmt das Thema ernst, indem er es musikalisch durchführt. Dass die beiden Teilcharaktere, die dem Gegensatz von » heureux « und » malchanceux « entsprechen, nicht an sich, sondern in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu nehmen sind, ändert nichts daran, dass die Vertonung dem romantischen Thema zur Dar-stellung verhilft.Ravel bekräftigt die traditionelle Ausdruckswelt des Fauréschen Liedes durch den Vergleich mit Schumanns » Ich grolle nicht « . In beiden Fällen stellt unmittelbare Expressivität einen wichtigen Aspekt des Materials der Komposition dar, nicht aber deren Substanz, Ziel oder Zweck. In beiden Fällen gehen andererseits die kompo-sitorischen Prozeduren, denen das direkt-expressive Material ausgesetzt wird, in der vermittelten Expressivität einer zweiten Unmittelbarkeit restlos auf.Fauré geht sicherlich weniger weit als Schumann auf dem Weg vertraulicher Mitteilungen und leidenschaftlicher Ergüsse. Fauré ist wahrscheinlich aus deutscher Sicht kein extremer Vertreter der Leidenschaftlichkeit, wohl aber ein großer Repräsentant französischer Leidenschaftlichkeit: einer nostalgischen und zarten Leidenschaftlichkeit, die – wie besonders in » Le Secret « – ohne Schamlosigkeiten und überflüssige Schreie einen packenden und starken Ge-fühlsausdruck erreicht.93 » Dolce e sereno « , die Vortragsbezeichnung der ersten Strophe von » Au cimetière « , benennt den Grundaffekt des gesamten Stücks, das Darstellungsziel, dem die for-malen Strategien wie die Vermittlung der Momente direkter Expressivität dienen: eine Heiterkeit, die Innenspannung besitzt, weil sie den irdischen Tumult reflektie-rend in sich aufgenommen hat. Was man die affirmative Grundhaltung der Musik Faurés nennen kann – hier ist sie, in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkung wie der Komplexität ihrer Voraussetzungen, erfahrbar. 91 » Elégie du sommeil éternel « vs. » intermezzo plus orageux qui en est, pour ainsi dire, le ›Dies irae‹« (Jankélévitch 1974, S. 101).92 Ebd.93 » Fauré va certes moins loin que Schumann dans la voie des confidences et des effusions véhémentes. Néanmoins, pour n’être probablement pas un grand lyrique aux yeux de l’Allemagne, Fauré est un grand lyrique français: lyrisme nostalgique et tendre, sans impudeurs et sans cris superflus, mais qui sait attendre – dans ›Le Secret‹ en particulier – à l’émotion poignante et forte « (Ravel 1989, S. 325).