Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 229 4 Komponieren nach Fauré: Ravels » Histoires naturelles « Ravels musikalische Poetik lässt sich als Versuch verstehen, das Faurésche Pro-gramm unter veränderten Umständen neu zu realisieren. Die veränderten Umstän-de, die primär von einem veränderten Publikum herrühren, veranlassen Ravel, von Materialien auszugehen, die weit stärker kontrastieren als Faurés Themen und Klänge es untereinander jemals getan haben und die stärker auch durch vormusika-lische Erfahrungen und anderweitigen musikalischen Gebrauch vorbelastet sind. Für Ravels Fauré-Bild spielt Chabrier insofern eine zweifache Rolle. Zum einen lässt erst die Akzentuierung, die Chabrier vornimmt, die Dialektik der Fauréschen Musik verstehen, die Radikalität, die der » continuité sereine « 94 Kraft und Legitima-tion gibt. Fauré ist der Meister feinster Nuancen, Übergänge und Balance; darin tre-ten jedoch nicht die Vorlieben einer sanften Salon-Seele ans Licht, es handelt sich vielmehr um das Resultat musikalischer Arbeit, um die Äußerung der Kraft musi-kalischer Autonomie. Zum anderen ist die Tatsache, dass Ravel im Vergleich zu Fauré extremer, krasser, bunter komponiert, als eine Gewichtsverlagerung inner-halb der Chabrier und Fauré gemeinsamen kompositorischen Strategie zu deuten, als Verbindung einer Drastik, die an Chabrier anknüpft, mit einer Genauigkeit der kompositorischen Integration, für die Fauré vorbildlich bleibt.Fauré hat, wie Debussy und andere Zeitgenossen von musikalischem Ge-schmack und Urteilsvermögen, Ravels » Histoires naturelles « abgelehnt. Seine Re-serve gilt wohl – soweit der karge Satz, der von Louis Aubert überliefert ist,95 über-haupt im Detail aussagekräftig ist und durch Interpretation strapaziert werden darf – der Tatsache, dass Musik sich hier einer nicht-poetischen Sprache verbindet und auf das Feld einer Lakonik begibt, die jede Art von Ausdruck zu vermeiden scheint. Der Abstand zu Faurés Musikideal, der durch die » Histoires naturelles « gesetzt ist und in Faurés Vorbehalten ausgesprochen wird, ist sachlich offenkundig. » La Pin-tade « hat mit der Ausdruckswelt von » Au cimetière « und » Ich grolle nicht « nichts gemein.96 Über das Nicht-Verstehen des Älteren für das Werk des Jüngeren hinweg lässt sich jedoch ein Zusammenhang auch von den » Histoires naturelles « zu Fauré sicht-bar machen, wenn man von den Kategorien ausgeht, die Ravel in seinem Text über Fauré entwickelt: von einem » verallgemeinerten « Fauré sozusagen, der durch den Vergleich mit Chabrier von seinen personalstilistischen Eigenheiten gelöst ist.94 Ravel 1989, S. 324.95 » J’aime beaucoup Ravel, mais je n’aime pas qu’on mette en musique des choses comme ça « , zitiert nach Nectoux 1990, S. 270.96 Ravels » Histoires naturelles « sind, um verstanden zu werden, auf verständnisvolle Ausführung an-gewiesen. Sowohl die Aufnahme mit Jane Bathori, bei der sie sich selbst am Klavier begleitet, als auch ihre Kommentare – nicht nur, aber auch zu den berüchtigten e-muets – sind sehr hilfreich. Vgl. Lau -rent 1986. Zusätzlich zu den dort und zu den im einschlägigen Personenartikel der MGG ² genannten Quellen ist auf eine weitere Rundfunk-Sendung hinzuweisen: » Hommage à Jane Bathori « , Sendung von Jane Bathori und P. Minet, RTF, 1957.