230 Thomas Kabisch *» Le Martin-Pêcheur « , das vierte und vorletzte Lied, ist das Herzstück des Zyklus. Der Text handelt nicht (wie die Nummern 1, 2 und 5) von einem Tier, das eine menschliche Geschichte erlebt oder menschlichen Geschäften nachgeht, nicht von symbolträchtigen Tieren der literarischen Moderne (Nr. 3), sondern von einem Men-schen, der von einem Vogel für einen Baum gehalten wird und von dieser geglück-ten Verwandlung, von dieser » rare émotion « erzählt.97 Die » rare émotion « ist musi-kalisch realisiert als deformierte Polonaise, in doppelter Brechung also, insofern ers-tens das Seltene und Kostbare in der Gestalt eines Konventionellen, Gewöhnlichen gezeigt wird und zweitens das Konventionelle in beschädigter Form erscheint. Von » musique ›humoristique‹« , wie Debussy den Zyklus in einem Brief an Louis Laloy charakterisiert,98 von frivoler Uneigentlichkeit (die in der Musik nach seiner Auffassung unmöglich ist, wie Debussy durch die Anführungszeichen zu verstehen gibt), kann gleichwohl keine Rede sein. Indem das Seltene und Kostbare, anstatt in einer Sonderregion exquisiter, nie gehörter Klänge angesiedelt zu werden, als Quali-tät gefasst wird, die im Alltäglichen, in den Erfahrungen des kollektiven musika-lischen Bewusstseins aufzusuchen ist, wird es weder ironisierend vermieden noch denunzierend abgeschwächt, sondern durch Gefährdung in seiner Bedeutung ge-steigert. Die Modifikation des Polonaisen-Rhythmus durch Verlängerung der drit-ten Zählzeit hat einerseits eine distanzierende Wirkung. Sie macht – um Diaghilews Wort über » La Valse « aufzugreifen – aus der Polonaise das Bild einer Polonaise. Zu-gleich aber verstärkt sie den Sog, der von der ersten Zählzeit ausgeht, mithin die körperlich unmittelbare Wirkung des Polonaisen-Modells. Die Polonaise wird so-wohl weggerückt wie in ihrer Nahwirkung gesteigert. Das reflexive, distanzierende Moment steht nicht in Gegensatz zur elementaren Wirkung der Musik, sondern ist ihr eigentümlich verschränkt.Die besondere Wirkung der Polonaise setzt ein Spiel von Ähnlichkeiten, Über-gängen und Mehrdeutigkeiten voraus, aus dem sie hervortritt und auf das sie zu-rückwirkt. Strukturell bestimmendes Element des Tonsatzes ist eine Intervallzelle aus Quart mit einbeschriebener Sekund, die melodische und harmonische Vorgänge gleichermaßen determiniert. Der Satz balanciert auf der Grenze zwischen einem Parlando, das durch sprachliche Bedeutungen dominiert ist, und musikalisch auto-nomer Organisation. Die Polonaise als vorgeprägtes musikalisches Modell repräsen-tiert in dieser Umgebung den maximalen Grad von Bestimmtheit, indem sie perfek-97 Der Sage nach sind Eisvögel (griech. Halkyonen) verwandelte Menschen (vgl. Ovid, Metamorphosen, 11. Buch, 740ff.). Ravel war der mythologische Hintergrund mindestens aus der Beschäftigung mit dem Alcyone-Stoff im Rahmen des Rompreis-Verfahrens 1902 bekannt. » Äußerst selten bekommt man einen Eisvogel zu Gesicht […]« , heißt es bei Plinius, zitiert nach: Anita Albus: Von seltenen Vö-geln, Frankfurt/Main 2005, S. 197.98 Brief an Louis Laloy vom 8.3.1907, in: Debussy 2005, S. 999. Von Ravel als » faiseur de tours « ist präzi -sierend die Rede, deren Überraschungseffekt nach einmaligem Hören verbraucht sei (» c’est toujours préparé, et ça ne peut étonner qu’une fois!« ). Diese Kritik ist durch Umkehrung der Wertung direkt in das Ravel-Bild von Roland-Manuel u. a. eingegangen.