234 Thomas Kabisch (c) Aus dem weiten Feld des strukturell Möglichen ragen bevorzugte Akkordbil-dungen und Rezitationsformeln hervor. Es sind dies der Akkord der sixte ajoutée (T. 1 fis 1–ais 1–cis 2–dis 2), den man sich aus zwei verschränkten Quartzellen hervorge-gangen denken kann (ais–cis–dis und cis–dis–fis), und die Formel, die zu Beginn des » Martin-Pêcheur « a 1–h 1–d 2–a 1 lautet, jedoch in jedem Lied des Zyklus in dieser oder abgewandelter Form begegnet, mal als Gesamtgestalt, mal mit Akzentuierung des Sekundbestandteils, mal mit Hervorhebung der Quartkomponente, wodurch die Nähe zum Akkord de la sixte ajoutée hörbar wird.101 Der sixte-ajoutée-Akkord und die Allerweltsformel der Gesangsstimme sind innerhalb des strukturellen Systems mit seiner tonalen Hierarchisierung die musikalischen Objekte, an denen sich die ei-gentlichen Veränderungen vollziehen.102 Sie sind nicht Motoren des musikalischen Ablaufs, nicht Motive, sondern Kristallisationspunkte, an denen Veränderungen manifest werden und die umgekehrt ihre Identität eben daraus gewinnen, dass sie das Etwas sind, an dem die Veränderungen sich vollziehen. Welche Veränderung wesentlich ist, welche Veränderung nur lokale, welche strategische Bedeutung für das Stück im ganzen besitzt, steht vorab nicht fest. Die Komponenten des Satzes (das tonikal-funktionelle Gerüst, die Quart-Sekund-Zellen-Struktur, der sixte-ajoutée-Akkord, die Rezitationsformel) sind voneinander unabhängig, Wechselwir-kungen ergeben sich unvermutet. Mit anderen Worten: Ravels Satz ist in hohem Grade funktionalisiert, frei von substantialistischen Setzungen; der Primat liegt auf den Relationen.*Die analytischen Anmerkungen können an dieser Stelle abgebrochen werden, weil hinreichend klar geworden sein dürfte, was zu zeigen war: dass Ravels Lied, unge-achtet aller Unterschiede in Textwahl, Behandlung der Singstimme und Klaviersatz, wesentliche Eigenschaften mit Faurés Kompositionsweise teilt. Erstens kommen bei 101 Die Rezitationsformel und einige ihrer Varianten in verschiedenen Liedern der Histoires naturelles:S. 8, Il se repose: as’–b’–f’; S. 2, elle ne peut tarder: e’–f'–c’; S. 13, n’a rien: f’–g’–d’; S. 15, engraisse com-me une oie: fis’–h’–fis’–gis’–dis; S. 16, s’y poser: a’–e’–fis’–cis’; S. 18, dis–ais–cis–ais–cis–gis; S. 18, la bos-sue de ma cour: h’–e’’–cis’’–e’’–h’; S. 3, la fiancée n’arrive pas: cis’–fis–e–fis–cis; S. 4, c’est ainsi qu’il ap-pelle: fis’–h’–a’–fis’; S. 20, elle se bat sans motif: e–fis–gis–ais–e; S. 16, comme je tenais ma perche: dis–eis–fisis–his–fisis.102 Was geschieht mit dem Akkord? Er wird transponiert (T. 1, zweites Viertel), transponiert und anders registriert (T. 9, T. 22, T. 18), mittels strenger Stimmführung in andere Akkordtypen überführt, auffäl -lig vor allem eine Schichtung aus zwei Quinten (T. 1 letztes Achtel, T. 13, T. 22 zweites Viertel). Die Veränderungen sind insgesamt geringfügig, der Kreis von Varianten bleibt klein. Die Gering-fügigkeit der Unterschiede macht es möglich, dass in T. 15, einer weiteren Variante der Begleit -klangreihe aus T. 1, sich das Konsonanz-Dissonanz-Verhältnis vom Beginn umkehrt und nun der je -weils erste Klang Vorhaltsbedeutung hat mit Bezug auf den folgenden, welcher wiederum (T. 15,2. Achtel) ›direkt verständlich‹ ist als Verschränkung zweier Quart-Sekund-Zellen g–a–d und a–c–d. Die Geringfügigkeit der Unterschiede und die enge Verwandtschaft aller Klänge lässt auch die er-wähnte Entwicklung zur Quint als subtile Veränderung erscheinen. Zunächst erscheint sie nur lokal und in koloristischer Funktion (T. 1), deutlich dann in der Polonaise und vor allem in der Schluss kadenz, wo sie verschiedene Funktionen erfüllt (als Intervall, als geschichtetes Intervall, als Funda-mentschritt).