Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 235 Ravel wie bei Fauré Passagen vor, denen direkte Expressivität anhaftet; die Expres-sivität der Komposition aber entsteht aus der Bearbeitung dieser Passagen, dem » Wegspielen « mittels autonomer instrumentaler Verfahren. Zweitens ist das Ver-hältnis von vorgängigem Material und Autonomisierung bei Ravel wie bei Fauré am Modell von Konvention und Nuance orientiert, dessen Ursprung oder Urbild in der Gesprächskultur des Salon zu suchen sein dürfte.103 Drittens ist beider Kompo-nisten Musik insoweit im Kern affirmativ, auf Versöhnung angelegt. Ohne Brechun-gen funktioniert weder die Musik Ravels noch die Faurés; Verfremdung gibt es bei keinem der beiden.Bei Ravel sind die Auslenkungen größer, und die Verfahren, die eingesetzt wer-den, um die Konventionen auf Distanz zu halten, d.h. ihnen nicht folgen zu müssen, wenn man sie einmal aufgerufen hat, sind andere als bei Fauré. Fauré befreit sich durch lineare Verfahren von den Zwängen harmonischer Tonalität. Ravel dissoziiert die komplexe Kategorie des Motivs, indem die strukturgebende Ebene und die Ebe-ne der charakteristischen Einzelheiten nach je eigenen, nicht nach gemeinsamen Prinzipien organisiert werden. Strukturelle Verfahren schlagen direkt auf die mu-sikalische Oberfläche durch.Die verglichen mit Fauré größeren Auslenkungen, die stärkere Ausprägung von Kontrasten und lokalen Effekten bei Ravel kann man als Chabriersches Erbe be-trachten. Primär handelt es sich jedoch um eine Reaktion des Komponisten Ravel auf die steigende Drastik der Ausdrucksmittel in der Musik seiner Zeit und auf eine gewandelte Ästhetik. Fauré lässt sich auf diese Entwicklung nicht ein. Seine Oper » Pénélope « , uraufgeführt 1913 in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft und am selben Ort wie Strawinskys » Sacre du printemps « , steht den neuen Entwicklungen so fern, dass sie nicht einmal mehr zur Abgrenzung herangezogen wird. Das » re-noncement à la sauce « , das Leitbild einer neuen Ästhetik, die Jacques Rivière am » Sacre « exemplifiziert, wird als Alternative zum » impressionisme « präsentiert, den Rivière vor allem bei Ravel, aber auch bei Debussy findet.Doch Ravels » Histoires naturelles « lassen sich zwanglos als Einlösung des Pro-gramms auffassen, das Rivière an Strawinskys » Sacre « entwickelt. Rivières program-matischer Text hilft geradezu, Ravels Kompositionsweise und Poetik zu verstehen. Verbunden sind beide zunächst durch den antisymbolistischen Impuls, der bei Ra-vel durch die Wahl der poetischen Vorlage, bei Rivière durch die Polemik gegen das Prinzip der » Allusion « 104 und gegen Mallarmés Theorie des Tanzes 105 gesetzt ist. Ravels Komposition wie Strawinskys Stück in der Beschreibung durch Rivière bre-chen mit beiden Sorten von » sauce « , für die im Gebiet des Tanzes Loïe Fuller und Michel Fokine stehen. Ravel wie Strawinsky verzichten darauf, der Musik ein » Da-vor « oder ein » Dahinter « zu geben. Sie verzichten auf Verschleierung und Verhül-lung des Klanggeschehens ebenso wie auf apriorische Form, das musikalische Pen-dant zum Automatismus der tänzerischen » Bewegung « , die durch den Körper nur 103 Kabisch 2008.104 Vgl. Verlaine: Art poétique, in: ders. 1884, S. 23f.105 Vgl. Steland 1965, S. 13–28.