236 Thomas Kabisch in Gang gesetzt wird. Form entsteht bei beiden Komponisten aus der Eigendynamik der Details, von unten gleichsam, darin vergleichbar Nijinskis Choreographie, aus Gesten gefügt, die dem Körper zugehören und nicht dem abstrakten Prinzip der Be-wegung mit antizipierbarer Fortsetzung überantwortet werden. (Musikalische Ent-sprechungen zum A priori der von Rivière kritisierten » Bewegung « wären präexis-tente syntaktische Muster, die durch das konkrete Material ausgelöst werden und dann auszufüllen sind, oder dramaturgische Mittel wie der Kontrast, durch den die Einzelheiten vorab auf das Ganze ausgerichtet werden.) Die Form, die so aus Ein-zelnem sich konfiguriert, ist diskontinuierlich, scheut auch die Berührung nicht mit dem Banalen, gleichwohl erreicht sie » harmonie « und » grace « und ist Ausdruck von Gefühlen.106 Mit anderen Worten: Bei Rivières Strawinsky wie bei Ravel geht es um die Neubegründung von Expressivität, nicht um Vermeidung von Ausdruck und nicht um » reine Musik « im Sinne eines Neoklassizismus, wie Boris de Schloe-zer ihn propagierte.Rivières Ausführungen geben auch dem Konzept der Nuance insgesamt eine präzise Bedeutung und erlauben, es von jedweder stilistischer Fixierung zu lösen.107 Die Nuance ist, wie die von Rivière gepriesene » Geste « , frei von apriorischen Mo-menten. (Die Konvention determiniert innerhalb der Dialektik von Konvention und Nuance lediglich den Aktionsrahmen; sie bestimmt aber weder Ziel noch Ergebnis des Prozesses.) Weil ihr apriorische Grundlagen abgehen, ist, wer mit Nuancen um-geht, auf » genaueste und sorgfältigste Beobachtung « angewiesen. Es gilt, » feine Un-terschiede « und » unmerkliche Übergänge « 108 zu bemerken. Die Wirklichkeit ist für den, der sich dem Detail wirklich stellt, örtlich wie zeitlich, infinitesimal. Nur durch Vergleichung ist zu ermitteln, was an den Dingen essentiell ist und was akzidentiell. Nur durch » schnelle Reflexe « 109 lassen sich Nuancen beobachten, denn die Dinge sind in Bewegung.Vor dem Hintergrund des Textes von Rivière und seiner Forderung, zu » den Sa-chen « vorzustoßen, zeigt sich: das Konzept der Nuance tendiert zum Realismus. An die Stelle der disponierenden Verfügung über musikalische Gestalten tritt die Beob-achtung ihrer inneren Verfassung. Die präzise Mehrdeutigkeit der Nuance entsteht aus dem explorierenden Umgang mit dem Detail. Die innere Vielfalt seiner Mög-lichkeiten realisiert sich in der Multidimensionalität der Bezüge, die von ihm ausge-hen.Ravels Musik wird nach dem Weltkrieg extremer. Aber, und das ist abschließend zu zeigen, sie verlässt gleichwohl nicht das mit Fauré geteilte Paradigma der Dialek-tik von Konvention und Nuance. Die Vergröberung der Mittel, eine Drastik der Kontraste und Effekte wird balanciert durch eine Schärfung der Autonomisierungs-106 Rivière, in: Lesure 1980, S. 45f.107 Das Folgende ausführlich in Kabisch 2008. Zum Begriff der Nuance bei Jankélévitch vgl. Kabisch 2014b.108 Moritz 1981, S. 663.109 Csipak 1986.