Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 237 strategien. Ausdruck ist für Ravel auch weiterhin nur indirekt zu realisieren, da-durch, dass eine Komposition vorgängige Modelle aufruft und » wegspielt « .5 Nuance und Realismus: Ravels Musik nach 1918 Nuancierung als Teil einer Strategie des Realismus ist der Schlüssel zu Ravels Kom-ponieren in den Jahren nach 1918. Dieser Realismus ist mit einer Steigerung der Ar-tifizialität verbunden, mit gesteigerter Reflexion der musikalischen Mittel. Eine erste Erscheinungsweise des Realismus ist ein gesteigertes Interesse am Klang, das sich in vielfältiger Verwendung verfremdeter Instrumental- und Vokal-klänge äußert. Ravel wird klangrealistisch, indem er den Klang denaturiert (» Sonate pour violon et violoncelle « ). Eine zweite Erscheinungsform des Realismus liegt in der verstärkten Hinwendung zu elementaren Bestimmungen des Musikalischen. In-dem er Elementares bevorzugt, muss Ravel hinter bestimmte Errungenschaften der artifiziellen Musik zurückgehen (» Boléro « , » Chansons madécasses « ).Zugleich aber wird die Artifizialität in Ravels Kompositionen der Nachkriegszeit gesteigert. Sie erscheint als Verstärkung der linearen Komponente in der Komposi-tion. Linearität wird eingesetzt, um autonomisierte Klänge kompositorisch zu kon-trollieren und sie daran zu hindern, sich – wie in Zentralklang-Kompositionen rus-sischer Provenienz oder in Stücken Olivier Messiaens – eine konstruktive Gewalt anzumaßen, die sie sinnvoll nicht ausüben können. Linearität dient Ravel aber auch dazu, klanglichen Reichtum zu erzeugen jenseits der Grenzen harmonischer Funk-tionalität. Nicht Ausdünnung des Satzes ist das Ziel, sondern bisweilen sogar eine neue Orchestralität (» Sonate pour violon et violoncelle « ).*Im Kopfsatz der » Sonate pour violon et violoncelle « wird durch nuancierten Klang-realismus eine nicht-diskursive musikalische Entwicklung begründet. Die interval-lische Substanz wird zwar auch melodisch entwickelt, vor allem und zugleich aber mit den Mitteln der Satztechnik. Zu hören ist ein ideelles Gesamtinstrument, das dadurch entsteht, dass die real existierenden Teilinstrumente in uncharakteristischer Lage und mit ungewohnter Rollenverteilung 110 eingesetzt werden und sich oft mit verfremdeten Klängen hören lassen. Für die Fortentwicklung wichtige Intervalle treten zunächst als Kollisionsprodukte der Teilinstrumente, im Innern des Gesamt-klangs auf, bevor sie Eingang finden in den » Vordergrund « des Tonsatzes und als melodische Ereignisse artikuliert werden.Der konventionelle formale Grundriss der Sonatenform wird von Ravel im Sinne eines Balance-System benutzt, um die musikalische Entwicklung auf eine neue Ebe-ne zu heben. Ging es in der Exposition um klangliche Erzeugung divergenter Ge-110 Vgl. dagegen etwa Zoltán Kodály: Duo für Violine und Violoncello op. 7 (1914).