238 Thomas Kabisch stalten, so wird in der Reprise mit den Gestalten gearbeitet. In der Reprise ist die klangräumliche Umgebung der Melodiestimme von Anfang an durch die Begleit-figur gegeben; in der Exposition wird die Erweiterung des Klangraumes Schritt für Schritt durch neue Quintbeziehungen ermöglicht (e 1–a 1–e 2; Ziffer 1: d 1–a 1–d 2–a 2;Ziffer 2: d 1–g 1–d 2; T. 53: G–C). So werden technische Verfahren, die in der Exposition für die Klangraumerwei-terung oder im Rahmen der » kontrastierenden Ableitung « des Seitensatzes einge-setzt wurden (Sekundintervall Ziffer 5 und 2), in der Reprise frei für strategisch-großräumige Aufgaben. Bei Ziffer 12/13 wird die strukturelle Sekund e 2/d 2 mehrfach durch Flageoletts herausgehoben. Am Ende des Satzes treten beide Schluss- und Be-zugsklänge d und a hervor und werden mit ihren Unter- bzw. Oberquinten g und e versehen, d.h. mit ihren wechselseitigen Sekundnachbarn. Indem diese Zusammen-fassung der strukturellen Verhältnisse im Flageolett geschieht, werden sie zugleich ins Klanglich-Elementare zurückversetzt. Die Struktur der Komposition wird rück-bezogen auf die Struktur der Instrumente und der klingenden Saiten. Nicht der Klang ist Darstellungsmittel der Komposition, vielmehr die Komposition das Me-dium, um die inneren Möglichkeiten des Klangs auseinanderzulegen. Darin erweist sich Ravels Realismus, » le désir d’exprimer toute chose à la lettre « .111 *Ravels » Boléro « gehört – mit Strawinskys » Sacre du printemps « , Debussys » Jeux « , mit » La Valse « und » Daphnis et Cloë « – zu einer Gruppe von Partituren, die als konzertante Werke Berühmtheit erlangten, obwohl sie als Ballette konzipiert sind und obwohl die choreographische Dimension in einem unmittelbaren Sinn zum musikalischen Gegenstand gehört, insofern sie in die instrumentale Konstruktion eingreift. Ohne Choreographie hört man eingangs von » Augures printaniers « eine monotone Folge von Akkordschlägen. Mit der Choreographie, die Strawinsky für Nijinski notiert hat, ›sieht-hört‹ man einen 2/4-Takt, der im weiteren Verlauf auch mit rein instrumentalen Mitteln realisiert wird.112 111 Rivière, in: Lesure 1980, S. 40. Instrumentaler Realismus gewinnt im Kontext seines Komponierens der Nachkrigeszeit besondere Bedeutung; ein Novum ist er nicht. Volker Helbing verweist zu Recht auf Beispiele aus der Vorkriegszeit, in denen die Gegebenheiten der Instrumente grundlegende kom-positorische Entscheidungen geprägt haben: » 1. ›Laideronette‹: die schwarzen Tasten des prima-Spie-lers bestimmen die Vorauswahl der harmonischen Hauptstufen, beispielsweise indem als mi-Stufen (dominantische Zwischenteile) nur Dis und Ais in Frage kommen (Helbing 2008, S. 77). Schwarz-weiß scheint überhaupt ein gängiger Ausgangspunkt gewesen zu sein, wenn man an formale Gegen-überstellungen (in der Regel des Hauptgedanken) in Tonarten wie es-Moll vs. d-Moll (›Oiseaux tris-tes‹ und ›Le Gibet‹) oder ›E-Dorisch‹ vs. Dis-Dorisch (›Toccata‹) denkt (Helbing 2008, 177, S. 191 und 262). 2. ›Soupir‹, die pentatonische Klangfläche ist a) durch die Saitendisposition, b) spieltechnisch determiniert (von unten nach oben jeweils Terz-, Quart- und Quintflageolet). Wie Ravel Saitendispo-sition, Spieltechnik und Kernmotiv zusammen zwingt,« zeigt er in seiner Analyse des zweiten Satzes der Duosonate (Helbing 2011). 112 Strawinsky 1969, Beilage, S. 36.