Französische Musik vor und nach dem Ersten Weltkrieg 239 Im » Boléro « ist das Prinzip Ballett in doppelter Weise wirksam. Einerseits wird auf übliche Differenzierungsmöglichkeiten der Musik verzichtet. Anders als im » Sacre « , aber im Grundsatz vergleichbar, sind die musikalischen Ausdrucksbereiche und Gestaltungsweisen reduziert. Die Reduktion der kompositorischen Mittel, der Rückgang ins Elementare ermöglicht unmittelbare, körperhafte Wirkungen der Mu-sik. Andererseits aber stärkt das Prinzip Ballett durch die Rollendistanz die Indi-rektheit der musikalischen Expressivität. Die instrumentale Musik des » Boléro « spricht (primär) nicht direkt zum Hörer, sondern steht in Wechselwirkung mit tän-zerischer Bühnenaktion. Sie wirkt auf den Hörer durch das, was sie auf der Bühne auslöst oder aufnimmt.113 Auch im » Boléro « ist die Tendenz zum Elementaren balanciert durch einen Arti-fizialisierungsschub in anderen Bereichen. Claude Levi-Strauss hat in seiner Analy-se gezeigt, dass es im » Boléro « aller Schematik der Oberfläche ungeachtet eine nu-ancenreiche innere Entwicklung gibt, die sich aus dem » Verhältnis binärer und ter-närer Relationen und der daraus entspringenden Ambiguität « speist.114 Der Kon-flikt ternär/binär resp. symmetrisch/asymmetrisch besitzt generierende Kraft, die sich darin zeigt, dass nicht ein bestimmtes Element immer dasselbe » bedeutet « , son-dern vom Träger des Ternären zum Träger des Binären werden kann. Auch die un-erwartete Aktivität im Bereich des Harmonischen geht aus dieser Dialektik hervor.Der » Boléro « zehrt von der Dialektik von Konvention und Nuance und ist inso-weit eine Komposition in der Nähe Faurés. Denn » Nuancen « sind Veränderungen im Innern eines Identischen, das durch die internen Veränderungen erst aufgerufen wird, identifizierend tätig zu werden, und so Identität als Prozess gewinnt.6 » Chansons madécasses « Ravels Lieder sind, um verstanden zu werden, in besonderem Maße angewiesen auf verständnisvolle Ausführung. Sie werden unverständlich, sobald die Eigenständig-keit der sprachlichen Komponente in der Partie der Singstimme, sobald die Eigen-dynamik des Sprechens nicht realisiert ist. Dass die Singstimme sich der Ordnung des Metrums und der harmonischen Verhältnisse im selben Sinn und Grad unter-wirft wie die beteiligten Instrumente, ist bei Ravel Ausnahme, nicht Normalfall. Die innere Dynamik der » Chansons madécasses « entsteht aus der Interaktion von Spre-chen, Singen und instrumentalem Musizieren, die sich im Part der Sängerin selbst und im Verhältnis von Singstimme und Instrumentarium abspielt.Wenn die inneren Differenzen, Spannungen, Reibungen des Sprechens-Singens den Ausführenden Ravelscher Lieder nicht zur Verfügung stehen, greifen sie (not-wendigerweise) zu drastischen Mitteln des » Ausdrucks « , um die vermeintlich blas-113 Vgl. Chalupt 1956, S. 237f.114 Levi-Strauss 1971, dt. Übersetzung S. 777.