244 Thomas Kabisch kation der Bestandteile plötzlich einen völlig anderen Charakter entstehen. (Nicht Vermittlung herrscht in Ravels Musik, sondern das Prinzip des unvermittelten Um-schlagens; anstelle von kontrastierender Ableitung Identität im Kontrast.) Der » Nahandove « -Ruf wird so zum Zielpunkt eines musikalischen Prozesses; wieder, wie im zweiten Lied, wird aus einem Realitätsbruchstück ein Stück Musik. Die Passage, in der die zuvor gesonderten Schichten des Satzes vereinigt und zum » Nahandove « -Ruf in T. 28–30 geführt werden, benutzt einen Topos Ravelscher Musik. Der jubilierende Ton, Harmonik und Textur sind bekannt aus » Noël des jouets « oder vom Schluss des letzten Satzes aus » Ma Mère l’Oye « . Auch andere Pas-sagen im ersten der » Chansons madécasses « nehmen präexistente Ausdruckstypen auf. Das zweite Vereinigungsfeld (T. 45–51) spielt an auf entsprechende Felder in » L’Enfant et les sortilèges « (vgl. etwa den Beginn des zweiten Bildes), der Schluss (T. 79ff.) auf Debussys » L’ isle joyeuse « . Das Ziel ist in allen Fällen dasselbe: Abge-griffene Wendungen werden in neuem Zusammenhang neu erlebbar; Figuren, ent-wickelt für eine Welt der Kinder, der Spielzeugmechanik oder eine Watteausche Welt, erweisen sich als expressiv dort, wo von Liebe und Kolonialismus die Rede ist. Ravels Verfahren in den » Chansons madécasses « entspricht vollständig dem Fauréschen Programm, das Ausdruck nicht jenseits des umgangsmäßig Vertrauten sucht, sondern in den Objekten und Strukturen der musikalischen Umgebung. Mit Fauré teilt Ravel das affirmative Ziel der Dialektik von Konvention und Nuance. Durch untersuchenden, experimentierenden Umgang werden die präexistenten Ma-terialien zum Sprechen und in Bewegung gebracht. Nichts wird » inszeniert « ; nie-mals wird das Material zum Medium eines Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis-ses des Komponisten herabgesetzt. Diese » Absichtslosigkeit « , die im Material wirkt, aber nicht mit Hilfe des Mate-rials Wirkungen erzeugen will, gilt auch für Textwahl und Textbehandlung in den » Chansons madécasses « . Ravel hat, als Protest laut wurde gegen die antikolonialis-tische Tendenz der von ihm gewählten Texte zu einer Zeit, da französische Soldaten im Kampf gegen aufständische Nord-Marokkaner fielen, scheinbar ausweichend geantwortet. Marcel Marnat spricht gar von einem jesuitischem Versuch,119 den po-litischen Gehalt des Werks zu bestreiten. Über Ravels politische Einstellung und die Nähe zu dem antikolonialistischen Manifest, das die Surrealisten anlässlich der Eröffnung der Exposition coloniale 1931 verfassten, besteht kaum ein Zweifel.120 Doch ein Musikwerk ist kein Leit-artikel, und die Frage, wie ein politischer Gehalt in einem ästhetischen Gegenstand präsent sein kann, ohne dessen spezifische Seinsweise zu gefährden, ist durch Be-kenntnisse nicht zu beantworten.Ravels Erwiderung versucht, genuin künstlerisches Verfahren und politischen Gehalt durch Unterscheidung zu verknüpfen. Er sei als Komponist für die unver-mutet sich ergebenden Bezüge zur Tagespolitik so wenig verantwortlich wie Eva-119 Marnat 1986, S. 580.120 Marnat 1986, S. 580f. Zu Recht weist Marnat darauf hin, dass Ravels Textwahl Berührungspunkte hat mit der von Apollinaire verkündeten alternativen Liste kanonischer Autoren.